Neben den Geleisen
Sie haben ein Hobby, das sie den ganzen Tag beschäftigt, und das seit 18 Jahren: Die Horbers grüssen jeden Lokführer, der an ihrem Haus in Henggart vorbeifährt

Martin und Renée Horber sind ein Rentnerpaar, wie es in der Schweiz Abertausende gibt. Beide angegraut. Sie dezent geschminkt, das Foulard zum Pulli assortiert. Er mit ordentlich gestutztem Vollbart, blaues Jeanshemd, locker aufgeknöpft.
Trotz ihrer unauffälligen Erscheinung sind die beiden Senioren bekannt wie bunte Hunde: Alle Lokführer, die auf der Strecke zwischen Schaffhausen und Winterthur unterwegs sind, kennen das Paar. Die Bähnler wissen, dass Martin Horbers Lieblingspulli dunkelblau ist und dass sie seit einiger Zeit die Haare kurz trägt. Nicht, weil das Haus des Paares direkt an den Geleisen steht. Auch nicht, weil es durch die alte Stationstafel des Bahnhofs Henggart auffällt. Nein. Martin und Renée Horber winken seit 18 Jahren den Zugführern, die vorbeifahren.
An die 40-mal täglich hebt Martin Horber grüssend die Hand, wenn ein Thurbo, eine S 11 oder eine S 24 vorbeidonnert. Seine Frau hat sich von ihm anstecken lassen: «Er war bereits von Zügen fasziniert, als wir uns kennen lernten.» Das war vor 44 Jahren in Luxemburg, der Heimat von Renée Horber.
Sie haben alle Bahnstrecken der Schweiz abgefahren
Woher diese Leidenschaft herrührt, kann Martin Horber nicht erklären. Die Technik ist es nicht, und in seiner Familie finden sich keine Bähnler. Allerdings führte sein Schulweg in Winterthur-Seen die Geleise entlang. «Die schweren Loks, die an mir vorbeidröhnten, imponierten mir», sagt der heute 67-Jährige.
Seine Ausbildung zum Maschinenschlosser führte ihn nach Zürich – zum grössten Bahnhof der Schweiz. Ein Ort, der heute noch seine Passion befeuert. Von dort aus erkundete er im dritten und vierten Lehrjahr während der Sommerferien das feingliederige Schweizer Bahnnetz: Er befuhr sämtliche Linien – inklusive Nebenstrecken, versteht sich.
Ein Haus direkt an den Geleisen
Diese Errungenschaft pflegt er noch, inzwischen gemeinsam mit seiner Gattin. Kommen neue Bahnlinien hinzu, wie kürzlich der Gotthard-Basistunnel, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Horbers darauf unterwegs sind. «Auf dem Weg nach Bellinzona haben wir uns ein Glas Wein gegönnt und im neuen Tunnel angestossen», sagt die 65-Jährige.
Das Paar lebte in Neftenbach, als sie durch ein Inserat auf das Landstück in Henggart aufmerksam wurden. Verschiedene Parzellen standen zum Verkauf. «Für uns war klar – es konnte nur die unterste sein, die an die Gleise grenzt», erinnert er sich. Seit 1999 wohnen die Horbers im weissen Haus am Dorfrand, das sie «Zum Flügelrad» getauft haben. Über der Eingangstür prangt das namengebende Symbol, das einst das Logo der SBB war. Und seither winken sie. Erst nur dem ICE, der damals Zürich mit Stuttgart verband.
Ein Gartenfest mit 20 Lokführern
Bald fiel das grüssende Paar den Lokführern auf. «Eines Tages lagen zwei Tageskarten in unserem Briefkasten.» Der Absender war die ICE-Gruppe der Zürcher Lokführer. Die Horbers revanchierten sich mit einer Einladung zu einem kleinen Grillfest in ihrem Garten, neben den Geleisen. Knapp 20 Lokführer leisteten ihr Folge. «Es war ein gemütlicher, ungezwungener Abend bei Kotelett und Bier», sagt die Gastgeberin. Und jedes Mal, wenn ein Zug nahte, reihten sich die Bähnler auf und taten das, was man dann in diesem Garten immer tut: Sie winkten.
Damals war die Strecke zwischen Schaffhausen und Winterthur noch eingleisig, später kam die Spurerweiterung. Für viele Anrainer waren die auch in der Nacht andauernden Arbeiten eine Nervenprobe – ein Grund, vorübergehend auszuziehen. Anders die Horbers: «Ich habe mir in dieser Zeit frei genommen», sagt er. Aber nicht etwa, um die schlaflosen Stunden tagsüber vor- oder nachzuholen. «Die Güterwagen und Bauarbeiten vor der Haustüre waren faszinierend – das wollte ich mir nicht entgehen lassen.»
Angesteckt: Göttimeitli wird Lokführerin
Martin Horber hat nicht nur seine Frau angesteckt. Das Göttimeitli des Paares hat bei seinen Besuchen bereits als Dreikäsehoch gelernt, die kleinen Hände zum Gruss zu heben, wenn die Züge vorbeidonnern. Das tut sie heute noch – ihren Kollegen aus dem Führerstand heraus: Die junge Frau ist Lokführerin geworden.
Ist der Rentner daheim, verpasst er keinen Zug – auch während des Abendessens nicht. Dann sitzt er an der Stirnseite des Tisches, rechts gibt die Tür zum Garten den Blick Richtung Winterthur frei. Geradeaus sieht er durchs Fenster die Züge, die von Schaffhausen her kommen. Nach dem Eindunkeln machen einige Bähnler im Führerstand das Licht an, wenn sie am Haus der Horbers vorbeifahren. «Das gehört auf dieser Strecke dazu, so sehen sie mich winken», sagt etwa Lokführerin Maja Fischer.
Ein Neujahrsgruss aus dem fahrenden Zug
Andere Bähnler heben ein weisses Blatt hoch, damit die Senioren den Gruss besser sehen oder werfen kurz die Scheinwerfer an. Und eines Neujahrsmorgens verlangsamte ein Zug gar seine Fahrt. Der Lokführer liess das Fenster herunter, um dem Paar seine Neujahrswünsche zuzurufen.
Heute noch lässt diese Geschichte Martin Horbers Augen strahlen. Und darüber ist seine Frau glücklich: «Es ist schön, dass er ein Hobby hat – und sogar eines, bei dem er zu Hause ist.»
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