«Nicht zu schnell den Sieg ausrufen»
Die letzte IS-Bastion in Syrien steht vor dem Fall. Doch Nicolas Hénin, Kenner und Ex-Geisel der Jihadisten, äussert Skepsis.

Das einstige selbst ernannte Kalifat des Islamischen Staates (IS) ist auf ein Dorf im Osten Syriens zusammengeschrumpft. In Baghus halten IS-Kämpfer noch ein etwa vier Quadratkilometer grosses Gebiet, das bis an die Grenze zum Irak reicht. Die kurdische Nachrichtenagentur Hawar berichtete am Montagmorgen von heftigen Kämpfen rund um Baghus.
Das von den USA unterstützte kurdisch-arabische Bündnis, bekannt als Syrische Demokratische Kräfte (SDF), hat am Samstag den Beginn der Entscheidungsschlacht gegen den IS angekündigt. Zuletzt verlangsamte sich der Vormarsch der SDF, weil der IS Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbraucht. Die Anti-IS-Kämpfer stossen zudem auf Gebiete mit Landminen, Selbstmordanschläge und Sniperangriffe. Die SDF werden von der Kurdenmiliz YPG angeführt.
Drüben warten die Franzosen
Menschen, die aus dem letzten IS-Gebiet geflohen sind, berichteten, dass sich in Baghus noch «zwischen 500 und 600 Terroristen» aufhalten. SDF-Sprecher Mustafa Bali bestätigte die Angaben. IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi befinde sich aber wahrscheinlich nicht in dem Gebiet. «Wir glauben nicht, dass er in Syrien ist», sagte Bali der Nachrichtenagentur AFP.
Französische Bündnistruppen haben sich auf der irakischen Seite der Grenze positioniert, um eventuell flüchtende IS-Kämpfer abzufangen. Die IS-Kämpfer sind praktisch eingekesselt. Die kurdisch-arabischen Bodentruppen werden von US-Luftangriffen unterstützt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das verbliebene Stückchen Kalifat gefallen ist. Der amerikanische Präsident Donald Trump rechnet mit einer Rückeroberung des letzten IS-Gebiets in den nächsten Tagen.
Die sogenannte Entscheidungsschlacht gegen den IS ist in Gange: Baghus befindet sich im Osten Syriens direkt an der Grenze zum Irak.
Mit dem Verlust seines Territoriums sei der IS geschwächt, aber nicht vernichtet, sagte der französische Journalist Nicolas Hénin in einem Interview mit der «Tribune de Genève»: «Man darf nicht zu schnell den Sieg ausrufen.» Vom IS werde weiterhin Gefahr ausgehen.
Hénin ist ein Kenner des Nahen Ostens. Viele Jahre verbrachte er als Berichterstatter im Irak und in Syrien, wo er den Aufstieg des IS aus nächster Nähe verfolgen konnte. Im Juni 2013 geriet er in Gefangenschaft des IS. Zehn Monate später kam der 43-jährige Franzose wieder frei. Nach Syrien ist er nicht mehr zurückgekehrt.
Hénin berichtet, dass viele Jihadisten untergetaucht seien oder sich in die Wüste zurückgezogen hätten, um sich neu zu organisieren. In den einstigen Kalifatsgebieten gebe es bereits wieder Aufstände. Diese Gebiete würden schlecht regiert, die Menschen dort seien sehr unzufrieden. Das sei ein Nährboden für Rebellionen, die von IS-Kämpfern befördert werden könnten. Schläferzellen des IS könnten aktiv werden.
Im Weiteren weist Hénin auf die Terrorgefahr in Europa hin. Ein Teil der ausländischen Kämpfer sei zurückgekehrt. «Die Tatsache, dass ihr Ideal, das Projekt eines Kalifats, zerstört wurde, dürfte bei IS-Leuten die Lust auf Rache geweckt haben.» Hénin erinnert daran, dass erst im letzten Herbst ein grosser Anschlag in Rotterdam vereitelt worden sei. Von einem Sieg über den IS könne noch lange nicht die Rede sein.

In Syrien könnte der IS wieder erstarken, sobald sich die US-Truppen zurückgezogen haben, was US-Präsident Trump im vergangenen Dezember angekündigt hatte. Damit handelte sich Trump viel Kritik ein, sogar aus den eigenen Reihen. Vor einer Woche veröffentlichte das Pentagon einen Bericht, der vor einem Abzug der USA warnt. Innert sechs bis zwölf Monaten könne der IS wieder an Stärke zulegen.
Gemäss Medienberichten soll der Abzug der rund 2000 US-Soldaten aus Syrien bis Ende April vollzogen werden. Das dürfte die Kräfteverhältnisse in der Region ändern. So droht die Türkei, mit einer Offensive im Norden Syriens gegen die Kurdenmiliz YPG vorzugehen. Ankara sieht in ihr einen Ableger der verbotenen und als Terrororganisation eingestuften kurdischen Arbeiterpartei PKK. Gleichzeitig ist die YPG aber wichtigster syrischer Verbündeter der internationalen Anti-IS-Koalition.
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