
Darf man die Probleme, die Tabak- und Alkoholkonsum verursachen, derart kleinreden, wie das der «Tages-Anzeiger» im Beitrag «Kulturverlust durch Abstinenz» gemacht hat? Sosehr ich diese Zeitung sonst schätze: Hier ist mein Einspruch als Präventivmediziner angebracht.
Wir alle wissen, dass beim Alkoholkonsum zwischen mässigem, sozialem Trinken und unkontrolliertem, übermässigem Trinken zu unterscheiden ist. Die Konsumkurve für alkoholische Getränke ist weit entfernt von einer Normalverteilung: Rund die Hälfte des konsumierten Alkohols wird von rund 15 Prozent der Alkohol konsumierenden Bevölkerung konsumiert. Diese Mitmenschen sind aufgrund ihrer Abhängigkeit unfähig, nach zwei, drei Gläsern aufzuhören. Den Durchschnittskonsum zu diskutieren, ist deshalb unangebracht.
Kosten sind bekannt
Beim Alkohol geht es also nicht um die Gegenüberstellung von Abstinenten und Konsumenten, sondern um Möglichkeiten, Menschen mit einem Hang zur Alkoholabhängigkeit davor zu schützen, allzu leicht zu ihrem «Stoff» zu gelangen. Bei den meisten dieser Personen ist Abstinenz ein unentbehrlicher Behandlungsschritt. «Kulturverlust durch Abstinenz» ist ein künstlich geschaffenes Thema, ein Gespenst, das nicht zur Klärung der Situation beiträgt.
Ähnlich, aber doch anders gelagert ist das Problem beim Tabak und den neuen, von den grossen Tabakkonzernen propagierten E-Nikotinprodukten. Hier sind nicht 15 Prozent suchtgefährdet, sondern eine Mehrheit der Bevölkerung – falls sie in ihren Jugendjahren zum Nikotinkonsum verführt worden ist. Die gesundheitlichen Kosten sind bekannt, ebenso wie die Kosten für das Gesundheitswesen und die Volkswirtschaft.
Hat es vielleicht damit zu tun, dass in unserem Land politische Parteien und Meinungsmacher nicht angeben müssen, woher sie finanziert werden?
Die Staaten Westeuropas gehören zu denen, die das Problem besonders stark zu spüren bekommen. Schritt um Schritt treffen sie nun die gesetzlich abgestützten Massnahmen, um den Trend umzukehren – so, wie die Weltgesundheitsorganisation sie empfiehlt. Nur die Schweiz, im Herzen Westeuropas, macht nicht mit. Unser Land benötigt den Verweis auf die Kleinrepubliken der ehemaligen Sowjetunion, wenn es darum geht, zu zeigen, dass es in Europa Länder gibt, deren Tabakprävention noch schwächer ist.
Warum die Schweiz bei der Tabakprävention auf internationalem Niveau nicht mitmacht? Hat es vielleicht damit zu tun, dass in unserem Land politische Parteien und Meinungsmacher nicht angeben müssen, woher sie finanziert werden?
Und schliesslich muss man sich fragen, warum in diesem Artikel nicht von einem vernünftigen Umgang mit den genannten kulinarischen und anderen Vergnügungen die Rede ist, sondern von einer totalen Askese – die doch niemand verlangt.
Theodor Abelin ist emeritierter Professor für Präventivmedizin, Uni Bern
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Niemand verlangt die totale Askese
Die Schweiz tut zu wenig gegen Alkohol- und Tabaksucht. Statt Probleme kleinzureden, sollten wir einen vernünftigen Umgang damit anstreben.