Nach Champions-League-AusNun prasselt die Kritik auf Ronaldo ein
Juventus Turin wartet seit einem Vierteljahrhundert auf den Gewinn der Königsklasse. Nach dem Scheitern gegen Porto wird Cristiano Ronaldo als Sündenbock dargestellt.

Bei einem, der sehr hoch steigt, wenn er springt, ist auch die Fallhöhe besonders gross. Das liegt nun mal in der Natur der Dinge, buchstäblich und sprichwörtlich. Als Juventus vor drei Jahren Cristiano Ronaldo zu sich holte, dachte man vor allem an Abende wie den Dienstagabend in der Champions League: Turin, Rückspiel im Achtelfinal gegen den, nun ja, im Vergleich und mit Verlaub recht bescheidenen FC Porto. Er sollte komplizierte Spiele lösen, «risolvere», als wären sie verknotet. Notfalls auch ganz allein.
Seit 25 Jahren hat Juventus die Königsklasse nicht mehr gewonnen. Das ist ein Vierteljahrhundert. 24 Mal hat also ein anderer Club gewonnen, man muss sich das mal vorstellen. Eine Schmach, und das tut man einer alten Dame nicht an. Es sollte wieder nicht sein. In der Endabrechnung stand es 4:4, Porto hat dabei aber ein Auswärtstor mehr erzielt als die Turiner. Juventus ist schon wieder früh draussen, zum dritten Mal in Folge in der Ära Ronaldos, und erneut scheiterte man an einem vermeintlichen Wunschgegner: 2019 war es Ajax Amsterdam im Viertelfinal, 2020 dann Olympique Lyon im Achtelfinal. Und wieder war der Knotenlöser, auf den alle gewartet hatten, kein Erlöser – schlimmer noch: Ronaldo trug wesentlich zum «Desaster», zum «Albtraum», zum «Untergang» bei, wie die Zeitungen nun titeln. Mit einer schwachen Leistung und einem Sprung mit eingebauter Pirouette in der Nachspielzeit, von dem selbst der sonst so stille und diplomatische Trainer Andrea Pirlo später sagen sollte: «Er hat sich noch nie so gedreht, das war ein Fehler.»
Das gewünschte Tor, das nicht fallen will
Es lief die 115. Minute. Juventus führte 2:1 und hatte Chancen en masse. Porto war zu diesem Zeitpunkt ja auch schon seit mehr als einer Stunde zu zehnt und kämpfte mit letzter Kraft und mit der alleinigen Aussicht auf die Lotterie des Elfmeterschiessens. Mittendrin Pepe, unverwüstlich wie ehedem, mit diesem Biss aus einer anderen Zeit: ein Turm, oft höher als der Paradespringer Ronaldo, sein Freund und Kamerad aus tausend Schlachten mit Real Madrid und der portugiesischen Nationalmannschaft.
Dann gibt es einen Freistoss für Porto, etwa dreissig Meter vom Tor von Juventus entfernt, halblinks, keine sonderlich vielversprechende Lage. In der Mauer der Turiner steht auch Ronaldo, das gehört nun mal dazu. Sergio Oliveira läuft an, schiesst flach, und da springt also Cristiano Ronaldo denkwürdig unmotiviert hoch, dreht sich in der Luft, wie das kein Jungendspieler jemals unbescholten tut, der Ball passiert seine Beine und überrascht Juventus’ Torwart in der nahen Ecke. 2:2. Fünf Minuten bleiben noch, zwei Tore wären jetzt nötig. Doch es gelingt nur noch eines.

Alle italienischen Blätter haben Cristiano Ronaldo zum schwächsten Akteur des Spiels gewählt: Note 4 oder 4,5 von maximal 10. Und so debattiert nun also Turin und mithin ganz Italien darüber, ob es nicht Zeit sei, die Ära Ronaldo zu beschliessen, ob der Zyklus nicht ausgefranst sei. Ein Jahr vor Ablauf des Vertrags. Mit der bitteren Erkenntnis, dass in diesem Kollektivsport einer allein selten ausreicht für eine dauerhafte Siegesgarantie. Selbst wenn der eine CR7 ist und so viel verdient wie die Hälfte der Stammelf zusammen, nämlich 30 Millionen Euro im Jahr, netto.
Was sich 2018 bei der Verpflichtung wie ein Coup anfühlte, ein donnerndes Statement an die Adresse der Konkurrenz, offenbart sich als Flop. Zumal gemessen an den Erwartungen. In den ersten zwei Jahren gewann Juventus mit Ronaldo die italienische Meisterschaft, aber die hätte sie wohl auch ohne Ronaldo gewonnen. Das war davor schon sieben Mal in Folge gelungen, der Superstar verlängerte nur den normalen Gang der Dinge. Nein, Ronaldo sollte den Turinern die Krone Europas besorgen, wie ein Weihnachtsmann.
Keine Krone zum Jubiläum des Patrons
2021 wäre auch deshalb ein passendes Jahr dafür gewesen, weil sich der Geburtstag jenes Mannes zum hundertsten Mal jährt, der wie keiner den etwas blasierten, aber auch eleganten Siegeresprit Juventus’ ausstrahlte: Gianni Agnelli, langjähriger Chef von Fiat und dem Familienverein. Vor dem Spiel gegen Porto zeigte das italienische Fernsehen Bilder aus dem Archiv, mit dem «Avvocato» und den Glorien von Juvenuts aus jener Zeit. Sie sollten wohl inspirieren.
Nun, in diesem Jahr ist es sogar ziemlich unwahrscheinlich, dass Juventus den Meistertitel gewinnt, das Minimum. Inter Mailand liegt zehn Punkte vor dem Verein mit Ronaldo an der Spitze der Serie A, mit einem Spiel mehr zwar. Doch für einmal macht es den Anschein, als habe «pazza Inter», das verrückte Inter, wie es wegen seiner legendären Flattrigkeit genannt wird, den Kopf beisammen – nüchtern und konkret.
«Wir müssen diesen verdammten Pokal gewinnen»
Kann sich Juventus Ronaldo überhaupt noch leisten? Und: Will es ihn sich noch leisten? Andrea Agnelli, der Präsident des Clubs und Vorsitzender der European Club Association, klagt bei jeder Gelegenheit über die prekäre Finanzlage vieler Vereine. Er träumt von einer Super-Champions-League, 225 Spiele statt wie bisher 125, und von den Einnahmen, die eine solche Erweiterung generieren würde. Aber ob dann die Chance grösser wäre, den Henkelpott zu gewinnen, ist eher unsicher, frei nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
«Wir müssen diesen verdammten Pokal gewinnen, das ist das Ziel», sagte Pirlo nach dem Ausscheiden. Er dürfte wohl trotzdem Trainer bleiben. Sein Projekt sei auf mehrere Jahre angelegt, man stehe erst am Anfang. Aber ob Ronaldo, 36, der gerne alles um sich herum organisiert sieht und damit jede Neugestaltung des Spiels verhindert, da noch reinpasst? Pirlo operiert gerade an einer Gesamtüberholung der Mannschaft, zieht junge Spieler nach, die dem Standing von Juventus genügen – einen hat er schon gefunden: Federico Chiesa, 23, im Sommer von der Fiorentina übernommen, schickt sich gerade an, sein viel gelobtes Talent zu beweisen. Gegen Porto gelangen ihm drei Tore, zwei davon im Rückspiel.
Juventus muss sein Kader verjüngen. Plötzlich ist auch nicht mehr so sicher, ob sie den Vertrag von Gianluigi Buffon noch einmal verlängern wollen. Neulich sagte der Goalie, er werde «höchstens bis 2023» spielen. Er wäre dann 45. Auch «Gigi» hat die Champions League nämlich noch nie gewonnen, obschon er doch schon immer da war.
Fehler gefunden?Jetzt melden.