Nur langsam zähmt er das wilde Tier
Tom Lüthi wird nach dem Aufstieg in die MotoGP wieder zum Lernfahrer. Er hat es sich einfacher vorgestellt.
Er verlor in den Linkskurven Zeit. Auch in den Rechtskurven. Sogar geradeaus. Bis Tom Lüthi irgendwann dachte: «Wow, da fehlt mir ja wirklich etwas!» Ganz genau gezählt, trennten ihn mal 2,296 Sekunden vom Schnellsten. Dann 1,919. Und einmal sogar über 4. In jedem Fall eine ganze Menge in dieser Welt, die sich um Tausendstel dreht.
In gut zwei Wochen beginnt für den 31-jährigen Emmentaler das grösste Abenteuer seiner Karriere: Am 18. März wird er in Katar erstmals in der Königsklasse an den Start gehen, der MotoGP-Kategorie. Es ist ein Meilenstein für ihn, diesen Aufstieg hatte er seit vielen Jahren herbeigesehnt. Doch er bedeutet auch, dass Lüthi wiederum zum Lernfahrer wird und die neue Saison zum Lehrjahr – die Rückstände während der offiziellen GP-Testfahrten in Malaysia und Thailand zeigten ihm dies ohne Schonung auf. «Als Rennfahrer schaue ich natürlich stark auf die Zeiten», sagt Lüthi. «Und es gurkt mich an, wenn ich Rückstand habe.»

Zu erklären ist dieser Rückstand mit nackten Zahlen. Nachdem sich Lüthi kurz vor dem Ende der letztjährigen Saison einen Fussbruch zugezogen hatte, konnte er seine neue Maschine erst bei Testfahrten Ende Januar erstmals ausprobieren. Nur sechs Testtage hat er seither hinter sich gebracht, vier weniger als sein neuer Teamkollege Franco Morbidelli – in Kilometern: 1922 gegen 2921. Aber Erfahrung ist in diesem Metier durch nichts zu ersetzen. «Ich brauche noch mehr Kilometer, um mich mit der Maschine vertraut zu machen», sagt Lüthi.
Anfang Jahr hat er sich gar überlegt, mit einem handelsüblichen Strassenmotorrad von 1000 cm³ Hubraum auf einer Rennstrecke zu üben. Die Idee verwarf er bald wieder. «Der GP-Töff ist mit nichts zu vergleichen», erklärt er. Vielmehr setzt Lüthi nun auf die verbleibenden drei Testtage Ende dieser Woche in Katar. Am Montag folgt in Madrid die grosse Teampräsentation.
«Extrem überfordert»
Die Königsklasse ist in allen Belangen eine neue Welt für den Berner. 260 PS statt wie bislang 140, mehr als 350 km/h statt weniger als 300, «es läuft alles viel schneller ab, und trotzdem muss ich kühlen Kopf bewahren», berichtet Lüthi: Dass neu auch Elektronik bedient werden will, sei physisch und mental sehr anstrengend, sagt Lüthi, und er gesteht gar: «Die ersten Runden haben mich extrem überfordert.»
Und dazu kam: Während sich eine Moto2-Maschine auf die Linie zwingen lässt, wird dieser Versuch in der MotoGP schnell bestraft. Lüthi sagt: «Ich kann nicht mehr gegen das Motorrad arbeiten, sondern nur mit ihm. Es gewinnt immer.» Wie ein hungriges Raubtier.
Das zu erkennen, hat Zeit gekostet. Zeit, die Lüthi aber gewährt wird vom belgischen Rennstall Marc VDS, der ihm unter anderem einen vollamtlichen Fahrtrainer zur Verfügung stellt. Und Zeit, die er weiterhin braucht, um das Limit in der neuen Klasse zu finden. «Tom muss auch die ersten Rennen als Testfahrer angehen», sagt Manager Daniel Epp und mutmasst, dass dieser Prozess der Angewöhnung erst bei Saisonhälfte abgeschlossen sein könnte.
Aber auch wenn das Team des belgischen Milliardärs Marc van der Straten (VDS) hinter diesem Plan steht – hat Lüthi selbst die Geduld? Er lächelt, Geduld, ja, die sei das Schwierigste. «Zum Glück habe ich ein gutes Team, das auf mich einwirkt», sagt er. Mit Cheftechniker Gilles Bigot hat er seine wichtigste Bezugsperson aus dem Schweizer Rennstall Garage Plus Interwetten mitnehmen können. Und der mahne ihn ständig, wie schwierig nur schon kleine Schritte seien.
Sagenhafte Gegnerschaft
Denn mit der neuen Klasse ist es ja so: Wer hier am Start ist, kann Motorrad fahren. Marc Márquez, Valentino Rossi, Jorge Lorenzo – Lüthis Gegner im Jahr 2018 tragen sagenhafte Namen. Sich deren Zeiten nur schon zu nähern, ist die grosse Kunst. «Bis auf drei, vier Sekunden kommt man mit etwas Erfahrung recht locker an sie heran», sagt Lüthi. Das Problem seien die letzten zwei Sekunden. «Diese zu schliessen, habe ich mir nicht so schwierig vorgestellt», sagt er. Näher als 1,5 Sekunden ist Lüthi der Spitze noch gar nicht gekommen.
Mit dem letztjährigen Honda-Modell RC213V hat Lüthi nichts weniger als das Weltmeistermotorrad von Marc Márquez unter dem Hintern, «der Töff hat also riesiges Potenzial», ist Lüthi bewusst. Auf eine konkrete Zielsetzung verzichtet der Schweizer zum jetzigen Zeitpunkt aber. «Dafür wäre es zu früh», sagt er. Doch endlos Zeit hat Lüthi nicht, um sich zurechtzufinden, der Einjahresvertrag mit Marc VDS drückt das aus. Manager Epp sagt deshalb: «Unser Ziel ist, 2019 auch noch in der MotoGP zu fahren.»
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch