«Ob ich hier verrecke oder zurückmuss, macht keinen Unterschied»
Tausende Migranten sind in Tijuana gestrandet. Bis sie um Asyl in den USA bitten dürfen, können noch sechs Monate vergehen.

Da, wo sich die Strassen Baja California und Avenida 5 de Mayo in der mexikanischen Grenzstadt Tijuana kreuzen, hängt ein Geruch, der sich für immer ins Gedächtnis brennt. Es riecht nach Fäkalien, nach Erbrochenem – nach allem, was zurückbleibt, wenn sich 2500 Menschen 25 hellblaue WC-Kabinen teilen müssen. Hinter den Toiletten liegt Abfall, den niemand holt. Die Flüchtlinge aus Mittel- und Südamerika müssen sich in Pfützen waschen und tragen seit Wochen dieselben Kleider. Es riecht hier nach allem, ausser nach Menschenwürde.
Das Baseballfeld liegt in einer überaus gefährlichen Gegend in dieser ohnehin sehr gefährlichen Stadt, keine 50 Meter vom Grenzzaun zu den USA entfernt. Tijuana hat eine der höchsten Mordraten Mexikos, was wirklich etwas heissen will. Die Menschen hier sind vor mehr als einem Monat geflüchtet, aus Honduras, Guatemala, El Salvador. Mehr als 5000 Kilometer haben sie zurückgelegt, zu Fuss, auf Lastwagen barmherziger Fahrer oder in Bussen, die mexikanische Bundesstaaten zur Verfügung gestellt haben – nicht aus Barmherzigkeit, sondern um die Leute möglichst schnell loszuwerden.
Nun können sie es sehen, das gelobte Land, es liegt gleich da drüben, kaum einen Steinwurf entfernt. Manche haben das Steinewerfen ausprobiert, am Wochenende, als Hunderte versuchten, den Zaun zu stürmen, und von US-Grenzwächtern mit Gummigeschossen und Tränengas zurückgeworfen wurden. So brutal gingen die Posten gegen Männer, Frauen und Kinder vor, dass die mexikanische Regierung in einer offiziellen Note Aufklärung von Washington verlangt.
Die Hoffnung ist aufgezehrt
Viele der Flüchtlinge sind zermürbt nach diesen Nächten, mit oder ohne Schlafsack, auf dem Boden liegend, direkt neben ihren eigenen Ausscheidungen. «Ich werde keinen Monat mehr aushalten können, wir haben fast nichts mehr», sagt der 20 Jahre alte Lenin Herrera, der mittlerweile weiss, dass es wegen der verschärften Regeln der US-Regierung sechs Monate dauern dürfte, bis er um Asyl bitten darf.
In Tijuana versuchten am Montag mehr als 500 Menschen, in die USA zu gelangen. Video: AFP/Storyful
Herrera ist mit seiner Frau und dem zwei Jahre alten Sohn aus San Pedro Sula in Honduras geflüchtet, einer der gefährlichsten Städte der Welt. Er sagt, dass Dealer gedroht hätten, ihn vor den Augen seiner Familie zu töten – und dass sie genau das mit dem Nachbarn getan hätten. In Honduras ist Drogenhandel allgegenwärtig, er zerfrisst Gesellschaft, Polizei und Regierung.
Wie tief, das zeigt ein Vorfall am Dienstag: Juan Antonio Hernandez, der Bruder des honduranischen Präsidenten, wurde in Miami festgenommen. «Tony» Hernandez, wie er genannt wird, war einmal Kongressabgeordneter in seinem Land. Jetzt werden ihm Drogenhandel und Waffenbesitz vorgeworfen. Laut der Staatsanwaltschaft soll Hernandez mit Maschinengewehren gesicherte Kokainlieferungen aus Kolumbien organisiert, Ermittler bestochen und Schmiergeld von Drogenbossen gefordert haben. Kaum jemand in Honduras glaubt, dass Tony Hernandez so etwas ohne Wissen seines Bruders, des Präsidenten, tut.
Manche Migranten laufen jeden Tag die 13 Kilometer zum Strand. Von dort kann man in die USA hinübersehen.
Kann man einem jungen Vater verdenken, dass er wegwollte aus dieser Vorhölle? Er hat ein Köfferchen dabei, auf dem «Essentials» steht, und genau das war drin: Medikamente, die nun aufgebraucht sind. Er hat noch 1300 Pesos, umgerechnet etwa 60 Franken. Herreras Frau lässt sich an diesem Montagnachmittag in einem Zelt die Läuse aus den Haaren entfernen, fast alle hier haben inzwischen Läuse.
Herrera sucht Essen für seine Familie, irgendetwas, er selbst hat nur eine Handvoll Reis gegessen und eine Cola getrunken, die er von einem Helfer bekam. Ein bisschen Zucker, immerhin, später soll es Tacos geben, von Helfern gebacken. Er sagt: «Ob ich hier verrecke oder zurück nach Honduras muss, das macht für mich keinen Unterschied.»
Wer in einer solchen Situation lebt, unternimmt eben auch mal einen Sturm auf den Zaun. Der Chef der US-Grenzbehörden sagt, dass seine Leute «eine möglicherweise gefährliche Situation effizient gelöst» hätten. Die Szenen vom Sonntag scheinen in die Version Donald Trumps zu passen, dass südlich des Zauns Bad Hombres sässen, die nicht den amerikanischen Traum suchten, sondern den südamerikanischen Albtraum in die USA bringen wollten. Diese Leute, kann Trump nun sagen, würden ja nicht freundlich um Asyl bitten, sie wollten gewaltsam in die Vereinigten Staaten eindringen. Er droht auf Twitter: «Wir werden die Grenzen dauerhaft schliessen, wenn es nötig ist. Kongress, finanziere die Mauer!»
Die Sehnsucht lebt weiter
Im Osten von Tijuana stehen noch immer die acht Prototypen für diese Mauer. Die Tests sind abgeschlossen, fast alle Varianten wiesen Mängel auf. Sie sind jeweils zehn Meter hoch und zehn Meter breit, sie sehen aus wie eine Mischung aus bizarrer Architektur-Schau und Warnung an die Flüchtlinge.
Trotzdem sind sie hergekommen, auch weil Organisationen wie Pueblos Sin Fronteras ihnen Hoffnungen gemacht hatten, die sich nicht erfüllen werden – deshalb hagelt es in Mexiko Kritik an der regierungsunabhängigen Organisation, welche die Migrantenkarawanen massgeblich mitorganisiert hat. Trump hat die Karawanen im Vorfeld der US-Zwischenwahlen zu einer monströsen Armee hochstilisiert.
Nun sitzt diese Armee der Elenden in einem alten Sportzentrum herum, das Tijuanas Bürgermeister zur Verfügung gestellt hat – übrigens ein Bewunderer Donald Trumps, der gerne mit Baseballmütze herumläuft, auf der steht: «Make Tijuana great again.» Flüchtlinge sind für ihn nicht der richtige Weg, er hat sie Penner und Kiffer genannt, welche die Regierung in Mexiko-Stadt schnellstens zurückschicken sollte. Hundert von ihnen trifft nun dieses Schicksal; es sind die Mauerstürmer vom Sonntag, sie werden nach Mittelamerika abgeschoben.

Dauerhaft aber will Mexikos neuer Präsident Andrés Manuel López Obrador, der am Samstag sein Amt antritt, mit den USA über eine Art Marshallplan für Zentralamerika verhandeln; denn aufhalten könne man die Menschen nicht, so viel hat der linksgerichtete Politiker festgestellt. Die Erfolgsaussichten für seinen Plan sind gering, denn Trump sieht das ganz anders.
Manche der Migranten laufen jeden Tag die 13 Kilometer nach Westen zum Strand, um sich die Zeit zu vertreiben und die Sehnsucht zu nähren. Von dort kann man hinübersehen in die USA, zum International Friendship Park direkt an der Grenze und zu diesem Zaun, der nicht weit in den Pazifik hineinreicht.
«Ich könnte schwimmen», sagt Orbelina Melendez. Sie hätte allen Grund dazu. Ihr Ehemann ist vor ihren Augen in der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa abgeknallt worden. Sie ist 36 Jahre alt, klein, kräftig. Sie könnte tatsächlich schwimmen, aber sie weiss, dass sie aufgegriffen und abgeschoben werden würde und ihr Recht auf Asyl verwirkt hätte.
Also wartet sie auf ihren Termin an der Grenzbrücke El Chaparral: «Ich glaube, dass sich die Türen öffnen werden.» Warum sie das glaubt? «Weil mir nichts anderes übrig bleibt.»
Die Flüchtlinge hätten auch nach Reynosa gehen können, nach Mexicali oder Ciudad Juárez, das wäre näher, aber Tijuana ist für viele Mittelamerikaner ein mythischer Ort. Wenn sie es schon nicht nach Kalifornien schaffen, dann können sie vielleicht hier bleiben, hoffen sie. Das Geschäft mit den Gringos boomt, die Geschäfte suchen billige Arbeiter. Doch der Taxifahrer, der so manche Tür öffnet, deutet an einer Strassenecke im hippen Stadtviertel Revolución auf eine junge Frau und einen Teenager: «Das sind Mittelamerikaner, gerade gekommen. Das Mädchen arbeitet als Prostituierte, er vertickt Kokain.» Er sagt, was Trump sagen würde: «Scheisskerle».
Der Hass wächst
In Tijuana lautet das Motto: Die Heimat beginnt hier. Den Flüchtlingen aber schlägt Ablehnung entgegen, bisweilen sogar Hass. Es ist ganz anders als in Südmexiko, wo die Bauern ihnen Essen und Wasser brachten. Am Sonntag gab es Proteste, und deren Slogan «Tijuana zuerst» klingt ebenfalls ziemlich nach Trump. Knapp 5000 Flüchtlinge sind in der Grenzstadt, bis Jahresende könnten es 10 000 sein; in El Salvador ist eben wieder eine Karawane losmarschiert.
Es sind am Montag zwei Leute zur Strassenecke der Baja California und der Avenida 5 de Mayo gekommen, ein älterer Gringo im Miami-Dolphins-Trikot und ein junger Mexikaner. Sie wollen nicht helfen, sie wollen auch keine Empathie zeigen. Sie wollen gucken und ein bisschen schimpfen. Der Mexikaner sagt, er will keine Scheisskerle in seiner Stadt, der Amerikaner ist stinksauer, weil seine Freundin aus Panama nun wohl länger auf ihren Asyltermin warten muss. Tijuana ist der Ort, wo die Armen mit den Ärmsten konkurrieren.
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