«Oft kommt der Alltag in die Quere»
Moderatorin Mona Vetsch hat für die Sendung «Auf und davon» Auswanderer besucht, die ihre Freiheit in fernen Ländern suchen. Finden sie diese?

«Es gibt grundsätzlich zwei Kategorien Auswanderer: Die einen wollen weg, die anderen suchen etwas. Das sind nicht die Gleichen.
Die, die wegwollen, haben es meistens schwieriger. Denn sie wissen eigentlich nur, was sie nicht wollen. Für diejenigen, die etwas suchen, wird es nur dann schwierig, wenn das, was sie suchen, utopisch ist.

Trotzdem kann man die Frage, warum Schweizerinnen und Schweizer auswandern, so generell nicht beantworten. Es gibt schlicht zu viele Gründe. Objektiv gesehen ist das sowieso für viele unverständlich: Wir leben doch im Paradies, müssen uns vor nichts fürchten, sind bestens abgesichert. Wieso will man überhaupt weg hier?
Nur behindern dieses Netz und der doppelte Boden eben auch das, was Leben eigentlich ausmacht: Risiko, Abenteuer, Spontaneität.
Viele Auswanderer sind Tourismusunternehmer, die sagen: Wir wandern aus, um ein Business aufzuziehen. In dem Bereich sind wir Schweizer recht gut aufgestellt. Wir reden verschiedene Sprachen, wir sind auf Effizienz getrimmt, wir haben im Verhältnis zu anderen Ländern relativ viel finanzielle Mittel. Nicht wenige ziehen also los und suchen einen Ort, an dem sie ihre Visionen umsetzen können.
Sich selber im Gepäck
Und dann gibt es die zweite Kategorie. Diejenigen, die ein anderes Lebensgefühl suchen. Und dieses Lebensgefühl hat oft mit Freiheit zu tun. Zum Beispiel mit räumlicher Freiheit. Das betrifft Schweizer, die nach Kanada, Australien oder Skandinavien auswandern. Sie treibt die Sehnsucht nach Weite um.
Wenn man sie besucht, sagen sie: ‹Die Schweiz ist super. Ich habe nichts gegen die Schweiz. Alles funktioniert. Es ist mir dort einfach viel zu eng. Nachbarn, die mir in den Garten schauen können, vertrage ich nicht mehr.› Die bauen sich dann irgendwo im Wald ein Blockhaus und können auf ihrem Gelände machen, was sie wollen. Ohne dass sie wie bei uns hunderttausend Bewilligungen einholen müssen.
Der räumliche Freiraum ist einfach zu finden. Da reicht es, wenn man in eines dieser Länder zieht. Das Problem ist einfach, dass man am Schluss sich selber auch noch im Gepäck hat. Mit dem verfluchten Gefühl von Freiheit ist es genau wie mit dem Glück: Es ist flüchtig. Und wie oft hat man schliesslich die Gelegenheit, den neuen Ort auch zu geniessen? Tendenziell weniger oft als zuvor in der Schweiz, so viel ist klar.
Am Schluss holen einen all diese Alltagsanstrengungen ein. Fragen wie: Wie verdiene ich mein Geld? Mit wem teile ich mein Bett? Wer sind meine Freunde? In welche Schulen gehen meine Kinder? Diese Fragen beanspruchen auch bei Auswanderern 97 Prozent der Zeit – genau wie bei uns.
Wenn man Glück hat, fühlt man sich in den restlichen drei Prozent darin bestätigt, dass Auswandern das Richtige war. Weil halt einfach die 97 Prozent an einem Ort stattfinden, wo man sich aus irgendwelchen Gründen wohler fühlt. Ich glaube, der Traum von der Freiheit scheitert häufig daran, was für uns innerlich überhaupt möglich ist. Man muss sich auf die neuen Begebenheiten einlassen können.

Spontan fällt mir dazu eine Schweizerin ein, die mit ihrem Mann nach Kambodscha ausgewandert ist. Sie wollten einfach irgendwie, irgendwo ein neues Leben beginnen. Jetzt führt sie mit ihrem Mann ein Hostel – die beiden kommen finanziell mehr schlecht als recht durch. Trotzdem ist sie glücklich, trotzdem ist sie angekommen.
Auswanderer arbeiten härter
Sie hat aufgehört, wie wir Schweizer zu denken und schon am Vorabend den nächsten Tag zu planen. Warum? Weil das in Kambodscha nichts bringt. Man reagiert dort spontan darauf, was passiert. Und macht sich weniger Gedanken darüber, was die Zukunft bringt. Das bereitet vielen Schweizern total viel Mühe.
Man muss sich eben auch fragen: Welche Art von Glück ist einem überhaupt zugänglich? Freiheit und Glück bedeuten für jeden etwas anderes. Das klingt jetzt verdammt banal, ist aber so.
Die meisten Auswanderer arbeiten viel mehr als zuvor in der Schweiz. Besonders diejenigen, die an vermeintliche Traumdestinationen ausgewandert sind, etwa nach Florida oder Bali. Die Schweizer, die ich dort angetroffen habe, arbeiten sieben Tage pro Woche.
Ob das trotzdem etwas mit Freiheit zu tun hat? Ich glaube schon. Vom Schiff aus hat man immer das Gefühl, Freiheit sei, nicht arbeiten zu müssen. Aber das ist wohl einer der grössten Irrtümer überhaupt. Freiheit ist, so zu arbeiten, wie es für einen selber passt.
Freiheit ist vielleicht auch nur eine Idee. Und wenn man eine konkrete Vorstellung dieser Idee hat, muss man sie gar nicht mehr zwingend umsetzen. Zumindest ist das bei mir so. Ich glaube, es geht mehr um das Gefühl, entscheiden zu können, in welche Richtung es geht. Freiheit bedeutet, dass man seine Abhängigkeiten selber wählen kann.
Die schlimmste Vorstellung für mich selbst wäre, in einer Welt zu leben, in der ich alles entscheiden müsste. Und wo alles genau so wäre, wie ich es will. Erstens kann ich mich nicht entscheiden – grundsätzlich, bei allem. Zweitens bedeutet jede Entscheidung, dass du dich gegen zwanzig andere Optionen entscheidest. In der Tendenz macht mich das extrem unglücklich, weil ich ja nicht weiss, ob nicht eine der zwanzig anderen Optionen besser gewesen wäre.
Und drittens bin ich jemand, der genau ergründen will, warum ich eine Entscheidung getroffen habe. Könnte ja sein, dass ich gar nicht meinem Willen, sondern demjenigen meiner Eltern oder Freunde gefolgt bin.
Ja, ich weiss. Manche sagen, ich überlege viel zu viel.
Ich habe bei all den Auswanderern jedenfalls kein Konzept gefunden, das mir selber entspräche. Wohl aus dem einfachen Grund, weil ich mein Konzept von Freiheit schon lebe. Ich muss mich innerhalb von klaren Strukturen bewegen. Strukturen, die ich meist selber mitdefiniert habe, die aber trotzdem von aussen vorgegeben sind. Ich wäre unfähig, mir selber Struktur zu geben.

Das muss man für sich aber auch erst mal herausfinden. Zwischen 25 und 30 schwebte mir ein sehr viel radikalerer Lebensentwurf vor. Damals verbrachte ich längere Zeit in Paris. Dort hatte ich diese Sehnsucht nach der völligen Auflösung der eigenen Person. Ich träumte davon, in der Mansarde zu sitzen, Bücher zu lesen und zu schreiben. In den Strassen kennt mich niemand.
Ich bin für niemanden wesentlich. Das klingt für mich reizvoll. Trotzdem wäre es für mich der direkte Weg in den Untergang. Ich brauche die Struktur.»
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch