Ohne den Start läuft gar nichts
Der Bob-Weltcup in St. Moritz zeigt: Der Sport ist athletischer geworden – ein Schweizer hadert damit.

Die Frau schaut genau hin. Was sie sieht, gefällt ihr – sie lacht. Die Frau bestaunt in St. Moritz Männer. Männer, die schreien und der Reihe nach einen Schlitten durchs Eis stossen. Männer auch, die knapp bekleidet sind, dünner Stoff schützt die Haut vor der kalten Luft und gibt den Muskeln eine imponierende Oberfläche. Breite Schultern, grosser Bizeps, prächtige Oberschenkel: «Halbe Gorillas» nennt die Frau die Bobfahrer, korrigiert aber schnell, das seien «richtige Athleten», sie habe ihnen beim Aufwärmen zugeschaut: «Haben Sie gesehen, welch Sprungkraft die haben?»
Ja, Bobfahrer sind hochexplosiv. Müssen sie auch, der Start ist der wichtigste Teil ihres Sports. «Leider», sagt Rico Peter, bester Schweizer Viererbobpilot dieser Tage. Seine Stärken liegen beim Lenken und weniger beim Starten. «Aus dem Bobfahren ist ein Bobanschieben geworden», sagt Peter. Früher habe das Fahrkönnen vieles wettgemacht, heute entscheide meist die Athletik. Ein Blick auf die Gegner bestätigt: Die startschnellen Letten sind mächtige Erscheinungen, ihre Oberschenkel gleichen Riesenhaxen. Ähnlich proportioniert sind die Kanadier und die Deutschen.
Der Start geht so: Vier Männer mit Helm auf dem Kopf und Spikes an den Füssen gehen aufs Eis, sie schreien einander durch ebendiesen Helm an, dumpfe Laute dringen nach draussen, einer der vier sondert sich etwas ab, es ist der Pilot, während sich seine Kollegen auf den Rücken oder den Helm hauen – heiss machen, sagt man dem.
Wehe, der Einstieg klappt nicht
Es sind Rituale, die helfen, auf den Punkt bereit zu sein. Ziel ist es auch, dass die Kraft im gleichen Moment auf den Bob einwirkt; dass man möglichst lange schiebt (und sich ja nicht ziehen lässt); dass das Einsteigen geordnet abläuft und dass die Anschieber ruhig im Bob sitzen, damit der Steuermann das sensible Geschoss möglichst störungsfrei lenken kann. Sprinten die vier Männer los, scheinen sie zu explodieren. Von null auf hundert in fünf Sekunden.
Das Weltcup-Wochenende der Bobfahrer in St. Moritz bietet Naturgewalt samt gesellschaftlicher Vielfalt. Auf der Terrasse der Gunter-Sachs-Lodge trifft Nerz auf die gute alte Dächlikappe. Eine Champagnerflasche ploppt auf, jemand trägt ein Tablar voll Schnaps durch die Menge, und der Fanclub von Rico Peter trinkt Bier.
Auf der Terrasse tummeln sich viele ehemalige Bobfahrer, sie erzählen «Wisst ihr noch»-Geschichten und palavern davon, dass ein Zweierbob einem Cinquecento nahekommt und der Viererbob einem Mustang gleicht. Schauen sie den späteren Siegern, den Deutschen, beim Starten zu, dann nicken sie anerkennend.
Bobfahrer Peter hat recht, der Start entscheidet. Wer hier Hundertstelsekunden vergibt, holt sie im Kanal kaum mehr auf. Also besuchen die Bobfahrer den Kraftraum. Sie trainieren wie die Schwinger, mit grossen Gewichten. Mit dem Unterschied, dass sie später nicht in den Schwingkeller gehen, sondern Sprintübungen der Leichtathleten machen, immer und immer wieder.
Wenn man so will, dann ist der Bobfahrer eine Kreuzung aus Schwinger und Leichtathlet. Schwer, kräftig und schnell. Diese Kombination führt dazu, dass einerseits der Schwinger wenig geeignet ist als Anschieber, weil langsam. Und andererseits der typische Leichtathlet als Schiebkraft abfällt, weil leicht. Denn das Gewicht ist wichtig: Je schwerer ein Gegenstand, umso schneller kommt er unten im Ziel an. Also sind früher vor allem dicke Leute Bob gefahren. Irgendwann hat der Bobverband ein Maximalgewicht eingeführt. 630 Kilogramm darf der 210 kg schwere Schlitten samt Mannschaft wiegen, es wäre also von Vorteil, wenn der Bobfahrer rund 105 Kilogramm auf die Waage brächte. Falls nicht, wird das fehlende Gewicht mittels Bleiplatten in den Bob montiert, was die Piloten eher ungern machen – der Bob wird zum Anschieben schwerer.
Weil aber die meisten Passagiere von Natur aus leichter als 105 Kilogramm sind, trainieren sie sich das Gewicht in Form von Muskeln an. Gerade bei den klein gewachsenen Bobfahrern drücken sagenhafte Muskelberge aus dem Dress.
In der Schweiz ist es in diesen Tagen schwierig, gute Anschieber zu finden, Bob hat an Aufmerksamkeit und Popularität verloren, vorbei sind die Zeiten von Schärer, Weder, Götschi oder Annen. Dabei gäbe es wohl keine andere Sportart, die bessere Chancen bietet, um einmal an Olympischen Spielen teilzunehmen. Thomas Lamparter bestätigt dies, er war einer der weltbesten Anschieber, heute arbeitet er für den Schweizer Bobverband. «Wir sind eine der wenigen Sportarten, in denen du auch noch als 22-Jähriger anfangen kannst», sagt Lamparter. Doch immer mehr Junge seien nicht mehr bereit, zwei Jahre alles zu geben und sich einem Ziel unterzuordnen. Nachwuchs zu finden, ist zur grössten Herausforderung geworden.
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