Schweizer Starreporter: Immer wieder den Krieg im Kopf
Der Bündner Carl Just war 25 Jahre lang Kriegsreporter. Für seine Einsätze in Teheran, Beirut und Bagdad zahlt er einen hohen Preis: Das posttraumatische Belastungssyndrom wirft ihn immer wieder in den Krieg zurück.

Carl Just sitzt mit dem Rücken zur Wand im Restaurant. Er muss den Überblick behalten über das, was im Raum geschieht, «sonst werde ich unruhig und nervös». Sein Angstzustand ist ein typisches Merkmal des posttraumatischen Belastungssyndroms: Menschen mit traumatischen Erlebnissen - Folter, Geiselnahmen, Vergewaltigung, Terroranschläge, Krieg - leiden darunter. Aus Angst, erneut in eine solche Situation zu geraten, verlassen sie ihre Wohnung kaum noch und vereinsamen. Sie schlafen schlecht, sind schreckhaft und depressiv. Oder aggressiv: Manch ein amerikanischer Soldat, der in Vietnam oder im Irak kämpfte, löschte nach der Rückkehr seine Familie aus, nachdem er sich mit Alkohol und andern Drogen zugedröhnt hatte. Studien zeigen, dass rund ein Drittel der heimgekehrten Soldaten aus dem Irak- und Afghanistan-Krieg unter einer posttraumatischen Belastung leiden. Vier von fünf Kriegsveteranen haben zudem ein Suchtproblem.
Der 52-jährige Carl Just war nie ein Krieger und dennoch stets an der Front: 25 Jahre lang arbeitete er für den «Stern», die «Schweizer Illustrierte», den «Blick» und den «SonntagsBlick» als Kriegsreporter. Er schrieb über die Geiselnahme in der amerikanischen Botschaft in Teheran 1979 und berichtete von den Schauplätzen des iranisch-irakischen Krieges in den 80er-Jahren, der beiden Golfkriege mit US-Beteiligung und des Jugoslawien-Krieges. Er war im Bürgerkrieg im Libanon und schrieb über den israelisch-palästinensischen Konflikt, von beiden Seiten der Front.
Nach Panikattacken, Albträumen und lähmenden Zukunftsängsten machte Just 2004 eine Therapie bei Ulrich Schnyder, dem Leiter der Psychiatrischen Poliklinik des Universitätsspitals Zürich. Eine Zeitlang fühlte er sich besser, weil er bestimmte traumatische Erlebnisse aufgearbeitet hatte. «Aber ich litt unzählige Male selber unter Todesangst oder musste zusehen, wie Menschen brutal starben.» Für Just ist der Tag, an dem er keine Therapie mehr braucht, nicht absehbar. Heute lebt er in Maienfeld, wo er aufgewachsen ist, und arbeitet an einem Sachbuch mit autobiografischen Zügen. «Würde ich in Zürich wohnen, wäre ich vollends abgestürzt», sagt er.
Carl Just, wie sieht Ihr Alltag aus? Ich stehe am Morgen auf, arbeite ein bisschen. Irgendwann passiert etwas, das mich aus der Bahn wirft.
Beispielsweise? Kürzlich sass ich in einem Zoo-Restaurant und trank Kaffee. Plötzlich kreischte ein Papagei. Daraufhin hörte ich nur noch den Lärm einschlagender Granaten. Es wollte nicht aufhören, und ich rannte nach Hause und schloss mich ein. Dank meinen Therapeuten fand ich später heraus, dass mich der Papagei an eine Situation erinnerte, die ich in den 80er-Jahren mehrmals erlebt hatte: An der Réception eines Journalistenhotels in Beirut stand ein Papagei, der das Geräusch einschlagender Bomben nachahmte. Ich war eigentlich in einer stabilen Phase. Wegen des Papageis hatte ich ein Flashback, und nach zehn Minuten war ich wieder mitten im Krieg.
Was passierte dann? Ich konnte eine Woche lang praktisch nicht schlafen. Ich bin nur noch zu Hause herumgelegen, habe lustlos im Internet gesurft und mich geschämt. Zum Glück zwingt mich mein Hund, täglich drei Stunden nach draussen zu gehen. Er ist ein Afghane, ein afghanischer Windhund! (lacht laut)
Was hilft bei solchen Flashbacks? Die vernünftige Variante ist, sich vom Arzt Medikamente verschreiben zu lassen. Die schlechtere, aber leider praktischere, sich eine Woche lang mit Alkohol zuzudröhnen.
Sie wirken gestresst. Seit einiger Zeit herrscht ein grosser Rummel um mich. Deshalb rede ich derzeit zu viel über meine Krankheit. Das ist das Schlimmste, was du machen kannst: zu viel darüber reden. Jeder, der mich anruft, will mit mir über meine Krankheit sprechen. Dann gerätst du in eine Spirale und ertränkst die Angst und die Probleme im Alkohol. Besser ist, zum Therapeuten zu gehen. Mit ihm redest du zwanzig Minuten konzentriert über die Krankheit, dann sprichst du über andere Themen. Die Welt besteht ja nicht nur aus deiner Krankheit. Wenn ich beim Therapeuten bin, weiss ich: Es dauert zehn Tage, und ich bin aus dem Loch heraus.
Werden Sie aggressiv? Nein. Hin und wieder werde ich sauer. Wenn mich jemand im falschen Moment provoziert, kann ich böse werden. Aber ich habe so viel Gewalt gesehen und so oft beobachtet, wie eine Gewalttat zu einer Eskalation führte, dass ich mich zurücknehme.
Warum wurden Sie Kriegsreporter? Als junger Mann war ich überzeugt: Ich schreibe vier Artikel gegen das Böse, und die Welt wird besser. Ich stand politisch damals weit links. Links von mir gab es nur noch die Berliner Mauer. Damals waren einige Filme populär, die den Kriegsreporter verherrlichten: «Under Fire» mit Nick Nolte beispielsweise. Es war diese Mischung, die mich Kriegsreporter werden liess. Wenn ich von der Front nach Hause oder an die Hotelbar zurückkehrte, war ich für die Leute ein Held: Sie hingen an meinen Lippen, wenn ich erzählte. Und die schönsten Frauen lagen mir zu Füssen. So wird man zum Macho.
Wurde dieser Lebensstil zur Sucht? Ich habe darüber mit einem guten Freund diskutiert: Macht Adrenalin süchtig? Wahrscheinlich schon. Als Kriegsreporter wirst du irgendwann auch arrogant und überheblich: Wenn ich jeweils in der Schweiz war, sagte ich den Leuten: Was wisst ihr schon von den wahren Problemen dieser Welt, die Schweiz ist ja so langweilig. Dann suchst du den Adrenalinkick und reist wieder ins Kriegsgebiet.
Ist die Welt besser geworden? Ja. Aber nicht meinetwegen.
Wegen des Journalismus? Irgendwann musst du begreifen, dass du nur ein Teilchen bist in einem grossen Räderwerk, das gegen das Böse in der Welt kämpft. Zu diesem Räderwerk gehören Organisationen wie das IKRK, aber auch die Medien: Sie haben den Vietnamkrieg beendet. Sie haben dazu beigetragen, dass das Apartheid-Regime in Südafrika verschwand. Natürlich waren es nicht einzelne Berichte, die zur Verbesserung beitrugen, sondern eine kontinuierliche, hartnäckige Berichterstattung. Ich habe dank diesem Beruf sieben Leben gelebt. Es war intensiv und spannend. Ich habe weniger bewirkt, als ich gehofft hatte als junger Journalist. Aber meine Bilanz ist positiv.
Glauben Sie weiterhin an eine positive Wirkung der Medien? Ich war 2001 in Afghanistan, als die Amerikaner die Taliban vertrieben. Nach vier Wochen im Krieg sagten wir Profis: Jetzt gehen wir zwei Wochen an einen Swimmingpool nach Südfrankreich, um eine Pause zu machen. Daraufhin schickten viele Medien, vor allem englische, Paparazzi ins Land. Die wussten gar nicht, wo sie überhaupt waren. Das waren Leute, die früher Lady Di nachgerannt waren. Sie glaubten, sie seien jetzt auch Profis. Es gibt zu wenige gute Journalisten.
Was ist ein guter Journalist? Ein Mensch, der das journalistische Handwerk beherrscht, über Hintergrundwissen zu historischen Zusammenhängen verfügt und vor allem ein grosses Herz hat: Er steht auf der Seite der Opfer.
Sie selber haben sich oft selber inszeniert: Ich erinnere mich an ein Interview mit Radovan Karadzic im «Blick» während des Bosnien-Krieges. Man hatte den Eindruck: Es geht nicht um den Inhalt, sondern darum, der Leserschaft zu sagen: Carl Just ist bei Karadzic. Er ist ein harter Journalist. Er hat keine Angst! Natürlich gab es solche Sachen. Sie gehören dazu. Ich bin eitel, Sie sind eitel, wir alle sind eitel. Ich war eitel genug, um mich selber zum Spektakel zu machen. Aber die Inszenierungen wurden auf der Redaktion in Zürich gemacht. Ich habe einfach meine journalistische Arbeit getan.
Sie haben sich gegen die Inszenierungen nicht gewehrt. Nein, und vielleicht war das ein Fehler. Das Problem der Medien ist, dass sie Stars brauchen: Leute, die überallhin gehen und Storys liefern, die sich gut verkaufen. Aber wehe, wenn die Journalisten einmal nicht mehr funktionieren! Dann lassen sie sie fallen wie heisse Kartoffeln. (Anmerkung der Redaktion: Just erhielt 2002 den Ringier-Medienpreis für «vorbildliche journalistische Leistungen». Sechs Jahre später wurde er entlassen. Kürzlich einigten sich die Parteien vor dem Arbeitsgericht.)
Kriegsreportern wird vorgeworfen, sie liessen sich von den Parteien einspannen und würden einseitig berichten. Waren Sie ein «embedded journalist»? Die Meinung wird weit weg vom Ort des Geschehens gemacht. Die Chefredaktoren dinieren mit wichtigen Politikern, und dann beschliessen sie gemeinsam, wer der Böse ist und wer der Gute. Wenn ich jeweils wieder auf der Heimredaktion war nach einer Reportage, erklärte mir mein Chef, wie die Dinge in dem Land stehen, aus dem ich gerade kam. Sie konstruierten die Geschichte, die ich schreiben sollte. Ich habe lange nicht gemerkt, dass ich von der eigenen Redaktion manipuliert wurde. Gleichzeitig feierten sie mich als ihren Mann vor Ort.
Wie sind Sie mit den Todesgefahren an der Front umgegangen? Peter Arnett, der berühmte CNN-Reporter, fragte mich beim Frühstück nach einer Bombennacht in Bagdad: «Hi Carl, still alive?» Dann haben wir beide gelacht. So gingen wir damit um.
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