«Bei Skyguide hat sich kaum etwas geändert»
Auch zehn Jahre nach dem Unglück von Überlingen sorgt die Schweizer Flugsicherung immer wieder für negative Schlagzeilen. «Wir haben die Lehren gezogen», sagt Skyguide. Es gibt Aviatiker, die das bezweifeln.
Montag, 1. Juli 2002, 23.35 Uhr und 33 Sekunden – zwei Punkte verschwinden vom Radarschirm. «Shit!», entfährt es dem diensthabenden Fluglotsen Peter Nielsen, wie später Tonaufnahmen vor Gericht gezeigt haben. Der Vater von drei Kindern, der seit etwas über fünf Jahren bei der Flugsicherung Skyguide arbeitet, weiss, dass in diesem Moment zwei Flugzeuge zusammengestossen sind. Später erfährt er, dass es 71 Tote gab, davon 49 Kinder.
Nielsen war in jener Nacht allein an den Überwachungsbildschirmen. Fünf Jahre später befand das Bezirksgericht Bülach, der Absturz von Überlingen hätte verhindert werden können, wenn ein zweiter Lotse im Raum gewesen wäre. Obwohl es vor dem Unglück mehrmals zu Beinahezusammenstössen gekommen und in einem Fall sogar die Unterbesetzung mit nur einem Lotsen als Ursache genannt worden war, hätten die Verantwortlichen «aus Betriebsblindheit» einfach darauf vertraut, «dass nie etwas passieren wird», sagte Gerichtspräsident Rainer Hohler bei der Begründung des Urteils. Vier Kaderleute von Skyguide wurden der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden.
Zu diesem Zeitpunkt war Peter Nielsen tot, erstochen von Vitali Kalojew, der seine Frau und zwei Kinder beim Flugzeugunglück verloren hatte.
Kaum etwas geändert?
«Wir haben die Lehren aus diesem Unglück gezogen», sagte nach dem Urteil der interimistische Skyguide-CEO Francis Schubert zu den Medien. Das sagte schon sein Vorgänger, der ehemalige Skyguide-CEO Alain Rossier im März 2003. Im Gegensatz dazu kam das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) in einem Bericht im April 2006 zum Schluss, dass «eine etablierte Kultur der stetigen Verbesserung» nicht oder zumindest in viel zu schwacher Form implementiert sei.
«Auch heute hat sich kaum etwas geändert», sagte vor ein paar Tagen ein Schweizer Pilot gegenüber Redaktion Tamedia. Trotz Verbesserungen: Nach wie vor liege es mit den Arbeitsbedingungen bei Skyguide im Argen. Der Job eines Fluglotsen ist sehr komplex, eine hohe Belastbarkeit und die Fähigkeit zum Multitasking gehören zu den Grundvoraussetzungen für die Arbeit am Überwachungsbildschirm. «Nicht immer sitzen die besten Leute am Bildschirm», sagt ein Aviatiker. Und ein anderer sagt, ein Unglück wie Überlingen könnte sich auch heute noch ereignen.
Man habe nach Überlingen «die zehn Sicherheitsempfehlungen der deutschen Bundesstelle für Unfalluntersuchung an die Adresse der Flugsicherung lückenlos umgesetzt», sagt Roger Gaberell, Kommunikationschef bei Skyguide. Dank der erhöhten Sensibilität für das Thema Sicherheit und der Entwicklung neuartiger Methoden gehöre Skyguide heute «mit zu den führenden Flugsicherungen in Europa». Für jeden Überflugsektor seien «jederzeit zwei FlugverkehrsleiterInnen im Einsatz», so Gaberell.
Zwei schwere Vorfälle am Flughafen Zürich
Dennoch kam es am Flughafen Zürich beinahe zur Katastrophe: Vor rund einem Jahr starteten zwei Flugzeuge auf dem Klotener Pistenkreuz fast zeitgleich. Die Aufmerksamkeit der Piloten verhinderte eine Katastrophe. Die Schweizerische Unfalluntersuchungsstelle (Sust) hat den schweren Vorfall untersucht und vor einigen Wochen publiziert. Sie macht unter anderem den Lotsen für den Beinahe-Crash verantwortlich. Er habe beiden Flugzeugen kurz nacheinander die Startfreigabe erteilt. Aus dem Untersuchungsbericht geht hervor, dass nebst dem hohen Verkehrsaufkommen am Flughafen Zürich zusätzlich Vermessungsflüge durchgeführt wurden, was die Komplexität des Betriebes für die Lotsen erhöhte.
Ebendieser Flugverkehrsleiter war bereits im Jahr 2008 an einem schweren Vorfall am Flughafen Zürich beteiligt. Er erteilte damals einem Flugzeug auf der Piste 28 die Startfreigabe und kurz zuvor auf der Piste 16 einer anfliegenden Maschine die Landeerlaubnis. Zwischen Skyguide und dem Lotsen fand nach dem ersten Beinahe-Crash weder eine Nachbesprechung statt noch hat die Flugsicherung sonstige Massnahmen getroffen. Nach dem zweiten Vorfall sah es anders aus. «Es wurde eine Prozedur entwickelt, die die Flugverkehrsleiter bei ähnlichen Vorfällen besser begleitet», so Gaberell.
Fehlerfreie Arbeitsweise «nicht realistisch»
Die Untersuchungsexperten weisen im Schlussbericht zudem auf ein «systematisches Problem am Arbeitskonzept der Platzverkehrsleitstelle» hin. Das grundsätzliche Arbeitsprozedere weise jedem Flugverkehrsleiter ein bestimmtes Aufgabengebiet zu. Dabei ist keine gegenseitige Überwachung vorgesehen. «Damit setzt man letztlich eine fehlerfreie Arbeitsweise des Einzelnen voraus, was bekanntermassen nicht realistisch ist». Andere europäische Flughäfen gewährleisten genau aus diesem Grund die Sicherheit durch zwei oder mehr Lotsen. In Frankfurt etwa widmen sich teilweise zwei Flugverkehrsleiter dem gleichen Verkehrsgeschehen. Das stellt laut Sust ein «wertvolles Sicherheitsnetz dar».
Nachdem der Sust-Bericht publik wurde, teilte die Gewerkschaft der Luftverkehrsleiter, Aerocontrol, mit, dass die Arbeitsorganisation im Tower nur eine begrenzte gegenseitige Unterstützung der Lotsen untereinander zulasse. «Obwohl in der Fliegerei sonst üblich, steht dem Flugverkehrsleiter keine zusätzliche Person zur Verifizierung seiner Entscheidungen zur Seite.» Der Lotse habe dadurch den sicheren Ablauf des gesamten Flugverkehrs, der in seiner Verantwortung liege, alleine zu gewährleisten. «Eine verbesserte, gegenseitige Überwachung im Kontrollturm Zürich könnte dazu beitragen, das die Flugsicherheit verbessert werden könnte», stellt die Gewerkschaft der Lotsen fest.
Skyguide habe seit Überlingen etliches verbessert, sagt der Aviatikexperte Max Ungricht. Gegen menschliches Versagen sei aber niemand gefeit. «Der Vorfall hat gezeigt, dass der Mensch das schwächste Glied in der Kette ist», sagt Ungricht. «Neunzig Prozent aller Vorfälle sind auf menschliches Versagen zurückzuführen.»
Vorfälle, selbst schwere, werden wohl wieder passieren. Bleibt zu hoffen, dass daraus keine Unfälle entstehen. Schon gar nicht solche mit Todesfolge.
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