Paradies vor dem Sündenfall
Noch ist das Leben gemächlich auf dem westafrikanischen Archipel São Tomé und Príncipe. Erdölvorkommen könnten das aber bald ändern – höchste Zeit, die Inseln zu entdecken.

Der kleine Bub mit der Machete ist vielleicht acht Jahre alt. Mit totaler Selbstverständlichkeit hält er das Riesenmesser in der einen Hand und eine Kokosnuss in der anderen, holt aus – zack!, und die Nuss ist skalpiert. So präzis, dass ich das Kokoswasser aus einem kleinen Loch trinken kann, ohne mich vollzukleckern. Sobald sie leer ist, streckt der Knirps wortlos seine Hand nach der Nuss aus, bearbeitet sie erneut mit der Machete – und reicht mir zwei perfekte Hälften sowie ein scharf zugeschnittenes Stück der grünen Aussenhaut, mit dem ich das Fruchtfleisch wie mit einem Löffel aus der Schale lösen kann. Gehört mit zum Service: Für einen Euro gibts eine Kokosnuss frisch ab Palme, Zubereitung inklusive. Wer Glück hat, sieht den Knirps hochklettern, barfuss und flink wie ein Wiesel. Willkommen auf São Tomé und Príncipe!
São was? Tomé wo? Die Standardreplik, wenn man erzählt, wo man hingereist sei. Niemand kennts. Kein Wunder: Die Inseln sind nach den Seychellen der zweitkleinste Staat Afrikas, knapp so gross wie der Kanton Thurgau. Sie liegen 200 Kilometer vor der westafrikanischen Küste, punktgenau auf dem Äquator. Will heissen: warm und feucht. Und grün! Perfekt für Leute, die sich nicht zwischen Strand- und Wanderferien entscheiden können und die sich weder von den Mücken (Malaria ist ein Thema) noch vom gelegentlichen Improvisationscharakter abschrecken lassen. Es kann einem nämlich durchaus passieren, dass man abends in einem Restaurant einkehrt – und plötzlich der Strom ausfällt. Nicht schlimm, dann wird halt überm offenen Feuer weitergekocht, und auf den Tisch kommen Kerzen. Sie werden allerdings schleunigst ausgeblasen, sobald der Generator wieder läuft: Wachs ist teuer.
Die Bananen wachsen quasi in den Mund
Es sind solche kleinen Begebenheiten, die einen immer wieder daran erinnern, dass man in einem der ärmsten Länder der Welt zu Gast ist. Zumindest, was das Bruttoinlandprodukt angeht. 15 Prozent der 200'000 Einwohner sind arbeitslos. Hungern tut trotzdem keiner: Das Meer ist hier noch voller Fische, und überall wachsen Bananen, Brotfrucht- und Affenbrotbäume in Hülle und Fülle. Fast ein bisschen paradiesisch ist das, wie man vor die Haustür treten und sich mit Leckereien eindecken kann – so man denn weiss, wie man an die weit oben hängenden Früchte herankommt. Und diese palmengesäumten Sandstrände, an denen sich die türkisfarbenen Wellen brechen! An einem davon wurde in den 90ern der legendäre Bacardi-Werbespot gedreht. Heute ist die Praia Banana Privatbesitz des Luxushotels Roça Belo Monte.
Klingt portugiesisch? Ist es auch. Die Portugiesen gingen an Weihnachten 1471 als Erste auf São Tomé vor Anker; davor war hier nur Dschungel. Bevölkert wurde das Eiland erst, als die Entdecker darin einen idealen Sklavenumschlagplatz erkannten (und einen praktischen Abschiebeort für Juden und sonstige Ungewollte, die Inquisition lässt grüssen). Die allermeisten Einheimischen sind Nachfahren dieser armen Teufel aus Angola und von den Kapverden. Unabhängig wurden die Inseln erst 1975; seither titelt die Nationalhymne «Independência total». In den Schulen wird aber nach wie vor auf Portugiesisch unterrichtet, und katholisch ist sowieso fast jeder.
Die offensichtlichsten Spuren hat die Kolonialzeit in der Architektur hinterlassen, auch wenn diese arg am bröckeln ist. Die Strandpromenade im Hauptort São Tomé mit ihrem einst fürstlichen Geländer besteht heute in erster Linie aus Löchern. Und die Roças, die Gemäuer auf den weiterhin betriebenen Kakao- und Kaffeeplantagen mitsamt ihren geradezu romantisch verfallenen Herrenhäusern, Spitälern und Sklavenbaracken, werden von den Einheimischen mittels Wellblech und Holzlatten gern zu einfachsten Unterkünften umfunktioniert.

Wer sich dort taktvoll umsieht, wird herzlich und neugierig empfangen und entdeckt ein in sich funktionierendes, kleines Universum: Überall rennen Hunde, Hühner, Schweine umher, Kinder spielen Büchsen werfen, Frauen legen die im Fluss gewaschene Wäsche auf dem warmen Boden zum Trocknen aus. Seife ist Mangelware. Wem sie ausgeht, der greift auf Seifenkraut zurück, das man mit etwas Wasser zu hellgrünem, grasig riechendem Schaum anreiben kann. Überhaupt ist der Dschungel Drogerie und Apotheke in einem: Ob Herzbeschwerden oder Herzschmerz – im Busch ist bestimmt ein Kraut dagegen gewachsen.
Viele Hoteliers setzen auf Selbstgemachtes
Und dann die Graupapageien! Und die kleinen Affen, die man mit etwas Geduld bei einer Wanderung beobachten kann! Die Landkrabben, die sich ins Erdreich einbuddeln, sofern sie der Guide nicht an einer Schere herauszieht. Und danach wieder laufen lässt: Man geht hier respektvoll mit der Natur um. Es ist ein Glück, dass die Inseln lange nur ein Geheimtipp waren und der Tourismus erst jetzt langsam ins Rollen kommt. Jetzt, da viele Besucher sensibilisiert darauf sind, den Abfallberg im Land und den Plastikteppich im Meer nicht unnötig zu vergrössern. Viele Hoteliers auf den Inseln versuchen sich, so gut es geht, als Selbstversorger. Das fabelhaft gelegene Bom Bom Resort auf Príncipe – der kleineren, ruhigeren der beiden Inseln – stellt eigene Seife, eigenes Frühstücksmüesli, eigenes Joghurt her. Und der Guide, der mit den Touristen auf den über allem thronenden Pico Papagaio steigt, sammelt jedes Fetzchen Weggeworfenes ein, das er entdeckt.
Erfreulich. Doch was bringt die Zukunft? Unlängst wurde die Vermutung laut, unter den Inseln lagerten mehrere Milliarden Barrel Erdöl. Bereits haben sich erste Ölkonzerne in Stellung gebracht. Bald könnte sich hier also eine Menge ändern. Besser jetzt hinfahren. Kleider und Farbstifte einpacken für die Kids, die sich bei jeder Gelegenheit um einen scharen, und dafür die leeren Antibrumm- und Sonnencremeflaschen zum Recyceln mit nach Hause nehmen.
Die Reise wurde unterstützt von Baumeler Reisen.
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