Paulina regiert auf Granit
Die 27-jährige Polin gehört zu den besten Breakdancerinnen der Welt. Sie ist nach Zürich gereist, um sich den Weltmeistertitel zu holen.
Auf dem Balkon des Zürcher Opernhauses stehen sie schon in teurem Tuch und schlürfen Champagner. Vor dem Eingang purzeln zwei BMX-Fahrer immer wieder von ihren Rädern. Und nebenan bringt sich das Zurich Film Festival in Position. Doch es ist Paulina, die an diesem Mittwochabend den Platz regiert.
Sie wirbelt über die Granitplatten, als wären sie eine Leinwand und sie selbst ein Pinsel. Ein Lautsprecher mit einem forschen Hip-Hop-Beat reicht ihr als Aufforderung.
Paulina heisst einfach Paulina. In der Hip-Hop-Szene muss das reichen. Die Tänzerin aus Breslau in Polen ist eine der 16 besten Breakdancerinnen der Welt. Ein B-Girl, wie das im Fachterminus heisst. Sie ist in Zürich, um an der inoffiziellen Weltmeisterschaft teilzunehmen: dem Red Bull BC One.
«Es dauert ein paar Jahre, bis es cool aussieht.»
Hip-Hop sei ihre Welt, ihr Leben, ihr Beruf, sagt sie. Sie tanze manchmal über fünfeinhalb Stunden pro Tag. Übt Bewegungsabläufe, hält sich fit, tüftelt an neuen Moves, gibt abends Unterricht. Ein Leben für die Kunst, die Kultur. Für ein Leben, das sich sonst nicht im Rampenlicht abspielt. Während die besten B-Boys seit Jahren eine inoffizielle Weltmeisterschaft vor einem Millionenpublikum austragen, blieben die weiblichen Breakdancerinnen aussen vor.
Erst in diesem Jahr, bei der 15. Austragung, finden die B-Girls Aufnahme ins Hauptprogramm. Bevor sich die 16 besten Tänzer der Welt messen, dürfen die vier besten Frauen das Vorprogramm absolvieren. Doch dafür muss man erst die Vorausscheidung am Donnerstag überstehen.
Luft holen, optisch justieren
Und Pressearbeit absolvieren. Für Paulina kein Problem. Blitzschnell ist sie umgezogen, streift sich im Eingangsbereich des Parkhauses den Trainingsanzug und die Knieschoner über, setzt das Cap auf und beginnt zu tanzen. Sie zeigt zirkelartige Bewegungen, bei denen die Füsse vor- und zurückschnellen.
Die Kamerafrauen staunen begeistert: «So schnelle Bewegungen!» Eine Passantin bemerkt: «Und jetzt muss die einfach so tanzen? Einfach so drauflos? Schon noch fies.» Dabei ist genau das Paulinas Ding, eines jeden B-Boys' oder B-Girls' Ding. Der Tanz. Die spontane Reaktion auf die Musik.
Das Stück hat sie selber ausgesucht: «The Seed 2.0» von The Roots. Kein typisches Breakdance-Stück, aber voller Energie und Rhythmus. Nach sechs, sieben Runden ist das Filmteam zufrieden. Luft holen, optisch justieren.
Nie ohne Knieschoner
Für das Interview steckt sie sich zwei Haarklammern mit Rosenblüten ins Haar. Lippenstift und Ohrenschmuck trägt sie sowieso schon. Paulina ist kein Typ, und sie versucht auch keiner zu sein. Vielleicht denkt sie sogar etwas weiter als die meisten. «Ich weiss, dass ich nicht ewig tanzen kann. Der Körper macht das nicht mit – und zu verdienen gibt es kaum was.» Deshalb habe sie Wirtschaft studiert, sich abgesichert, für später. Sie ist 27.
Die Knie tun ihr weh. 14 Jahre intensives Training machen sich bemerkbar. «Am Anfang wusste ich nicht, wie man sich richtig aufwärmt, wie man sich richtig regeneriert.» Heute tanzt sie nie ohne Knieschoner.
Doch wie kam das mit dem Tanzen? Manchmal kann ziemlich schlechte Musik etwas ziemlich Gutes bewirken. Im Video des nervigen Endneunziger-Breakbeat-Hits «Freestyler» von den Bomfunk MC's sah sie eine Gruppe von B-Boys.
Viele Frauen gäben viel zu schnell auf, meint sie. Der Biss fehle. Ihre Breakdance-Klassen seien am Anfang voller Mädchen und junger Frauen. Nach drei Monaten seien vielleicht noch ein oder zwei dabei. «Es dauert ein paar Jahre, bis es cool aussieht.»
Harte körperliche Arbeit
Aufgeben, wenn man erst nach vier Jahren und täglichem Training ein paar Moves perfektioniert hat? Irgendwie verständlich. Aber was hielt Paulina bei der Stange? «In den Tanz fliesst meine ganze Kreativität. Es gibt keine Regeln und keinen Abschluss. Es gibt keinen Punkt, an dem du Breakdance komplett beherrschst. Die Welt des Breakdance ist unerschöpflich.» Auch das will sie zeigen, einen Tag später, bei der Vorausscheidung im Komplex 457 in Zürich-Altstetten.
Sie wird schliesslich der US-Amerikanerin Sunny zugelost. «Floorsisters», Schwestern in Bespielung des Bodens, nennt die Moderatorin die beiden, ehe sie antreten. Aber in diesem Moment sind sie Kontrahentinnen, treten im K.-o.-System gegeneinander an.
Die Amerikanerin wirkt zwei Spuren müheloser in ihren Bewegungen und baut ihre Runden dramaturgisch besser auf. Etwas schaffen beide: Sie wirken komplett. Man folgt ihrem Bewegungsfluss, ist neugierig darauf, wohin sie die Musik und ihr Einfallsreichtum führen werden. Und das in wenigen, hoch intensiven Sekunden.
Breaking ist Hochleistungssport – und das Abenteuer BC One für Paulina schon am Donnerstagabend kurz nach 21 Uhr vorbei.
Einen Tag vorher, auf einem der Stühle auf dem Sechseläutenplatz, die Rosen im Haar, sagt sie: «Ich kann jeden Tag tanzen. Und ich bin hier. Ich habe schon gewonnen.» Für einen Moment ist Zürich Olympia.
BC One, Samstag, 29.09.2018 im Hallenstadion
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