Dieser Artikel wurde ursprünglich am 24. Februar 2017 veröffentlicht. Zum Tod von Pfarrer Ernst Sieber publizieren wir ihn erneut.
Ein 90. Geburtstag ist eine anstrengende Sache. Wenn man Ernst Sieber heisst. Der berühmteste Pfarrer Zürichs hat in den letzten Tagen in seinem Einfamilienhaus in Uitikon-Waldegg zahlreiche Journalistinnen und Journalisten empfangen. Er hat dabei ein Programm absolviert, das auch für viel jüngere Menschen ermüdend wäre.
Sieber liebt solche Empfänge. Zum einen, weil der Gottesmann nicht ganz frei von Eitelkeit ist. Zum anderen, weil öffentliche Aufmerksamkeit zu seinem Geschäftsmodell gehört. Sieber weiss, dass jeder Auftritt in den Medien einen direkten Einfluss auf die Spenden hat und dass er mit mehr Spendengeldern auch mehr tun kann für Aussenseiter, Randständige, psychisch Kranke, Drogenabhängige und Aidskranke.
Seine Frau porträtiert wie Maria
Das Haus, in dem Pfarrer Sieber mit seiner Frau lebt, ist vollgestopft mit vielem, was sich in einem langen Leben ansammelt. Flügel, Gitarren, Handorgel, Weihnachtskrippe, Bücher und – natürlich die Bibel. Auf dem Salontischchen stehen Kreuz, zwei Skulpturen von Luftibus und Zwingli mit Schwert auf der einen und Zwingli mit Pflugschar auf der anderen Seite. An den Wänden hängen von Sieber gemalte Bilder, unter anderem Porträts von seiner Frau Sonja. Er hat sie inszeniert wie Maria.
Mit der ehemaligen Lehrerin und Sängerin hat er vier eigene sowie vier Pflegekinder. «Ohne Sonja», wiederholt er immer wieder, «möchte ich nicht weiterleben.» Zwischen all diesen Dingen wuselt Leila herum, der Hund des inzwischen verstorbenen Django. Sieber hatte den Obdachlosen einst auf der Strasse aufgelesen und hatte zu ihm eine besondere Beziehung. «Er war mein Bodyguard», sagt Sieber.
Er weiss sich in Szene zu setzen
Sieber mag ein bisschen eitel sein, vor allem aber ist er bescheiden. Auf Kleidung legte er nie Wert. Dunkle Hose und dunkle Strickjacke müssen reichen. So sitzt er auf dem Sofa im Wohnzimmer und referiert. Auch mit 90 blitzt immer wieder der Schalk aus seinen graublauen Augen. Seine Ausführungen unterlegt Sieber mit Bibelzitaten, er monologisiert, kommt vom Hundertsten ins Tausendste und begleitet das Gesagte mit ausladenden Gesten. Immer noch verwandelt er für die Fotografin einen Bilderrahmen in ein Holzkreuz und setzt sich gekonnt in Szene. Wie früher als EVP-Nationalrat (1991 bis 1995) oder als Fernsehpfarrer. Es erstaunt nicht, dass Ernst Sieber einmal Schauspieler werden wollte.

Griffige Symbolik ist ein Markenzeichen des Pfarrers – genauso wie sein Schlapphut und der Schal. Zwinglis Name fällt in seinen Ausführungen öfter, denn Sieber sieht sich auch als eine Art Reformator. Fast zwei Dutzend Sozialwerke hat er in seinem Leben gegründet. Nicht immer zur Freude von Nachbarn und Sozialbehörden. Heute gehören zur Stiftung Pfarrer Ernst Sieber (SWS) zwölf Angebote und Einrichtungen. Die 130 Vollzeitstellen teilen sich 180 Mitarbeitende. Rund die Hälfte davon arbeitet für das Spital Sune-Egge an der Konradstrasse.
Zu seinen grossen Erfolgen zählen seine Sozialwerke, allerdings nicht, was die Finanzen betrifft. Da hat er sich ein paarmal böse verhauen und den falschen Leuten vertraut. 2005 stand seine Stiftung vor dem Ruin, er und seine Frau mussten sich aus der Leitung zurückziehen. Dabei hat Sieber niemals einen Rappen für sich abgezweigt, doch öfter Dokumente unterzeichnet, die er besser nicht unterschrieben hätte. Das schmerzt ihn immer noch. Heute stehen die Einrichtungen wieder auf einem soliden Fundament.
Mit den Hells Angels unterwegs
Seinen legendären Ruf als Obdachlosenpfarrer begründete Sieber 1963 im Jahr der Seegfrörni. In jenem bitterkalten Winter holte er erstmals Randständige von der Strasse und quartierte sie in einem Bunker unter dem Helvetiaplatz ein. Schon damals handelte er unorthodox. Er scherte sich nicht einen Deut, was Leute über ihn dachten, wenn er mit Tino, einem der berühmtesten Hells Angels auf die Harley-Davidson stieg und mit ihm die Langstrasse hinauf- und hinunterfuhr.
In den 80er-Jahren wurde Sieber ein Star. Während der Jugendunruhen, als es auf der Quaibrücke beinahe zur Eskalation zwischen wütenden Demonstranten und der Polizei kam, stellte sich der Pfarrer mit seinem Esel zwischen die Fronten und beruhigte beide Seiten. Sieber war einer der Ersten, die sich um die Menschen in der offenen Drogenszene auf dem Platzspitz und später am Letten kümmerte. Die Schwerkranken der offenen Drogenszene pflegte er ab 1989 in dem von ihm gegründeten Sune-Egge an der Konradstrasse, einer sozialmedizinischen Krankenstation. Noch heute erzählt er voller Stolz, dass er diese Krankenstation ohne Bewilligung gebaut habe. «Manchmal braucht es Ungehorsam, um im Leben weiterzukommen.»
Der Traum vom Bundesdorf für Arme
Dem christlichen Gedanken der Nächstenliebe fühlt er sich ein Leben lang verpflichtet. Er kritisiert das asymmetrische Gefälle in der heutigen Gesellschaft. «Wo bleiben unsere Werte wie Freiheit, Menschenrechte und Menschenwürde, wenn die Spannweite zwischen Arm und Reich immer grösser wird?» Und nach wie vor träumt er den Traum, den er schon an seinem 80. Geburtstag geäussert hatte: Er möchte um eine leere Kirche herum ein Bundesdorf für arme Menschen gründen. Es soll ein Modell für solidarisches, gemeinschaftliches Zusammenleben sein. «Das möchte ich unbedingt noch verwirklichen können», sagt er mehr als einmal.
Sieber ist von Zürich-Altstetten wieder nach Uitikon-Waldegg zurückgekehrt, wo er als junger Pfarrer seine erste Stelle angetreten hatte. Hier geniesse er die schönen Sonnenuntergänge. Ab und zu, wenn ihn jemand im Auto mitnimmt, besucht er seine Obdachlosen im Pfuusbus oder geht malen in seinem Atelier am Sihlsee.
Pfarrer Sieber ist und bleibt ein unruhiger Geist. Der zu seinen Ehren angekündigte Gottesdienst im Grossmünster ist verschoben worden. Als Sieber hörte, dass in der Helferei, wo ein kleiner Imbiss geplant war, nur 300 Personen Platz hätten, sagte er: «Das geht nicht.» An die Weihnachtsfeier ins Hotel Marriott kommen jeweils 600 Obdachlose.
Der wirkliche Grund für das Verschieben des Geburtstagsgottesdienstes ist aber ein persönlicher, den er nicht bekannt geben will.
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Pfarrer am Rand
Ernst Sieber hat sein Leben in den Dienst der Armen und Benachteiligten gestellt. Redaktion Tamedia sprach mit ihm an seinem 90. Geburtstag.