Plötzlich obdachlos – wenn Teenager rausgeschmissen werden
Notschlafstellen für Jugendliche sind ausgelastet. Wer sind diese jungen Menschen auf der Strasse?

Stefanie war 17, als sie zu Hause rausgeschmissen wurde. Es lag nicht an ihren Noten. Sie nahm auch keine Drogen, nicht einmal geraucht hat sie. Freundinnen mochten die introvertierte Gymnasiastin, mit der Mutter aber hatte sie dauernd Krach. Richtig schlimmen Krach, mit vielen Beschimpfungen, die Stefanie sehr verletzten. Irgendwann fühlte sie sich nicht mehr als Mensch, sondern nur noch als Problem. Nach dem Einzug des neuen Freundes ihrer Mutter eskalierte die Situation. Die Tochter musste ihre Sachen packen. Das Problem Stefanie war für die Mutter damit vom Tisch.
Darja Baranova erinnert sich gut an die junge Frau, Stefanie, die eines Abends bei Nemo klingelte, der Zürcher Notschlafstelle für Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren. Baranova ist die Betriebsleiterin der von der Stiftung Sozialwerk Pfarrer Sieber ins Leben gerufenen Notschlafstelle im Zürcher Kreis 3. In dem Haus erinnert nichts an siffige Massenschläge. Es gibt einen gemütlichen Wohnbereich mit Esstisch, TV und Klavier, vier grosse Zimmer mit insgesamt 10 Betten, Jungs und Mädchen haben ein eigenes Bad. Alles ist sauber, die Möbel sind neu, gespendet von Ikea. Derzeit sind hier mehrheitlich junge Männer untergebracht, bis vor etwa fünf Jahren waren es vor allem junge Frauen.
Sex für ein warmes Bett
Dass Jugendliche vor die Tür gestellt werden, weil die Eltern komplett überfordert sind, komme in allen Gesellschaftsschichten vor, erzählt die 33-Jährige. Gerade sei ein Junge bei Nemo gestrandet, der aus einem sehr wohlhabenden Elternhaus komme. Die Mehrheit der Jugendlichen bei Nemo besitzt einen Schweizer Pass; die Eltern gehen arbeiten, keiner merkt, was zu Hause abgeht. «Manchmal laufen die Jugendlichen auch von selber weg, weil sie die Situation zu Hause nicht mehr aushalten», erzählt Baranova. Die einen quartieren sich dann bei Freunden ein, andere zahlen für ein warmes Bett mit sexuellen Gefälligkeiten, einige finden in besetzten Häusern Unterschlupf. Doch meist ist das nur für ein paar Nächte, nicht selten erleben die Jugendlichen erneut Gewalt, und irgendwann stehen sie wieder auf der Strasse.
«Nemo bietet Sicherheit, und der tägliche Stress, sich ein Dach über dem Kopf suchen zu müssen, fällt weg,» sagt Baranova. Damit sei wenigstens ein Grundbedürfnis abgedeckt, und die Jugendlichen könnten zur Ruhe kommen. Letztes Jahr verzeichnete Nemo über 1000 Übernachtungen; die meisten Obdachlosen schlafen dort während mehrerer Wochen. Die Anzahl jener, die sich zum ersten Mal bei Nemo melden, nimmt allerdings kontinuierlich zu: 2016 nahm die Notschlafstelle 40 Teenager auf, dieses Jahr waren es 80. Das ist eine Verdoppelung in drei Jahren. Darja Baranova vermutet, dass der Anstieg auch einer grösseren Bekanntheit von Nemo zusammenhänge.
Angebote in Basel und Bern
In Basel und Bern gibt es ähnliche Angebote, die ebenfalls rege genutzt werden. Die Kantone Basel-Stadt und Baselland haben keine eigentliche Notschlafstelle, aber sie bieten sogenannte Notbetten in fünf bestehenden Kinder- und Jugendheimen an. Jährlich nutzen das Angebot rund 20 Jugendliche, die Mehrheit ist 15 oder 16 Jahre alt. In Bern existiert die Notaufnahmegruppe für Jugendliche (NAG). Dieses Jahr waren die sechs zur Verfügung stehenden Betten zu fast 100 Prozent ausgelastet. Im Schnitt finden 47 Jugendliche pro Jahr Unterschlupf, davon knapp zwei Drittel Mädchen.
«Viele Jugendliche erzählen uns von Eltern, die ihnen das Gefühl geben, dass sie nichts wert seien.»
Laut Darja Baranova gleichen sich die Leidensgeschichten der jungen Menschen in einem zentralen Punkt. Sie alle haben zu Hause jahrelangen Missbrauch erlebt, nicht unbedingt sexuell, aber psychisch. Die Eltern brachten ihnen kaum Wertschätzung entgegen, geschweige denn Liebe. Zwischendurch rutschte dem Vater oder der Mutter auch die Hand aus. In manchen Fällen ist die Kesb bereits involviert. «Viele erzählen uns von schlimmen verbalen Erniedrigungen, von Eltern, die ihnen einbläuten, dass sie nichts wert seien und es nie zu etwas bringen würden», erzählt Baranova. Dass einige heute synthetische Drogen schlucken oder koksen und fast alle kiffen, findet sie verständlich. «Drogen sind nichts anderes als Schmerzmittel für die Seele.»
Die Fassade fällt am Abend
Die innere Verwahrlosung sieht man ihnen jedoch nicht an. Im Gegenteil: Viele der Jugendlichen achten darauf, äusserlich nicht aufzufallen, um wenigstens den Schein eines normalen Lebens zu wahren, obwohl sie auf der Strasse rumhängen. Bei Nemo können sie duschen, es gibt Parfüm, Schminke und sogar gespendete Markenklamotten. Einige wenige gehen tagsüber zur Schule, oder sie machen eine Ausbildung, ihr Umfeld weiss nicht, dass sie obdachlos sind. Die Fassade fällt jedoch spätestens am Abend zusammen, wenn die Teenager mit den Betreuenden bei Nemo essen und reden.
«Wenn ihnen endlich jemand zuhört und sie ernst nimmt, werden sie sehr mitteilungsbedürftig, und dann kommen all ihre psychischen Probleme zum Vorschein», sagt Baranova. Das sei teilweise sehr schmerzhaft, nicht nur für die Betroffenen selbst. «Manchmal möchte ich das falsche Selbstbild einfach löschen können, das sie glauben lässt, sie seien Versager und unwürdig, weiterzuleben.» Doch es ist nicht Baranovas Aufgabe, die Jugendlichen psychologisch zu betreuen. Nemo soll primär auffangen und die Jugendlichen ermutigen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. «Ich sage immer: Nemo ist nicht die letzte Station, sondern der Beginn eines Neustarts.»
Frische Bettwäsche hilft
Dafür müssen die Obdachlosen aber erst einmal Energie und Selbstvertrauen tanken. Ein offenes Ohr hilft da genauso wie eine gemütliche Wohnzimmeratmosphäre, frisch duftende Bettwäsche und Tassen mit aufmunternden Sprüchen. «Wir sind aber ganz klar kein Zuhause», sagt Baranova, auch wenn es ihre Schützlinge so empfinden. Darum soll es auch nicht zu gemütlich werden. Einlass ins Nemo-Haus ist erst ab 20 Uhr, danach gibt es Abendessen, nach dem Frühstück müssen alle spätestens um halb neun wieder draussen sein.
Natürlich lässt man die Jugendlichen nicht einfach in der Luft hängen. Wenn sie es wünschen, wird die Kesb informiert. Sie können sich im selben Haus auch von Sozialarbeitern beraten lassen, und weil Nemo lediglich ein Auffangort ist, suchen die Mitarbeitenden nach Übernachtungsalternativen und vor allem nach längerfristigen Anschlusslösungen. «Manchmal finden wir eine WG oder betreute Wohngruppen, einige kommen aber auch in eine stationäre Behandlung, bis sich ihr psychischer Zustand einigermassen stabilisiert.» Der Aufenthalt bei Nemo ist auf maximal drei Monate beschränkt, die Mehrheit bleibt mehrere Wochen, bis sich eine Lösung abzeichnet.
Stefanie, die introvertierte Gymnasiastin, die später Sprachen studieren wollte, blieb ein paar Monate im Nemo-Haus. Gemeinsam mit den Mitarbeitenden hat die damals knapp 18-Jährige einen WG-Platz gefunden und Sozialhilfe beantragt, damit sie ihr Leben selbstständig managen konnte. Was aus ihr geworden ist, weiss Darja Baranova nicht. Sie deutet es aber als gutes Zeichen, dass Stefanie nie mehr bei Nemo angeklopft hat.
Notschlafstellen für Jugendliche:Zürich: www.swsieber.ch (Nemo), www.schlupfhuus.chBasel:www.notbetten.chBern:www.schlossmatt-bern.ch (NAG)
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