Plötzlich Politiker
Während den Schweizer Piraten ein Sitz im Nationalrat bisher verwehrt blieb, bevölkern ihre deutschen Kollegen bereits das Parlament. Den Exotenstatus müssen sie noch überwinden.
Der Berliner Bär auf dem grossen Wappen im Plenarsaal des Abgeordnetenhauses hat schon viel gesehen. Doch was er am Donnerstag bei der konstituierenden Sitzung des Berliner Landesparlaments erblickt, kommt nicht alle Tage vor: Ein Zwei-Meter-Hüne in einer leuchtend orangefarbenen Latzhose und blau-weissem Kopftuch stiefelt zur Wahlkabine, um den Parlamentspräsidenten zu wählen. Der Mann heisst Claus Gerwald und ist einer von 15 Abgeordneten der Piratenpartei, die am 18. September mit 8,9 Prozent der Wählerstimmen erstmals in ein deutsches Landesparlament eingezogen sind.
Wie auf einem kleinen Tortenstück sitzt die junge Fraktion im Plenum ganz rechts aus der Perspektive des frisch gewählten Parlamentspräsidenten Ralf Wieland (SPD). Um die Sitzordnung hatte es zuvor einigen Streit gegeben, aber nun haben die Piraten sichtbar zufrieden auf den ehemaligen Stühlen der FDP Platz genommen. Die Liberalen waren bei der Wahl mit 1,8 Prozent deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Fleissig twittern die Piraten, was sie bei ihrer ersten Plenarsitzung erleben: «Showtime!», schreibt Christopher Lauer kurz vor dem Beginn.
Piraten wollen eigenen Vizepräsidenten
Gleich am Anfang sorgen die Piraten mit Anträgen auf Änderung der Geschäftsordnung für eine Debatte. Damit sollen kleinen Fraktionen und einzelnen Abgeordneten mehr Rechte, etwa bei der Antragstellung oder der Vertretung im Präsidium eingeräumt werden, sagt der Parlamentarische Geschäftsführer, Martin Delius. Unter anderem wollen die Piraten einen eigenen Vizepräsidenten stellen. Die Anträge, für die eine Zwei-Drittel-Mehrheit des Plenums erforderlich ist, werden in die Ausschüsse verwiesen. Bei einigen Anträgen zur Geschäftsordnung stimmen die Piraten uneinheitlich ab.
Daraufhin müssen sie sich erstmal von den Linken darüber belehren lassen, wie Demokratie funktioniert. «Politik braucht Mehrheiten», erklärt der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Uwe Doering, den Neulingen. «Und damit sieht es schlecht aus, wenn man nicht mal die eigene Fraktion überzeugen kann.» Es gebe bei den Piraten keinen Fraktionszwang, rechtfertigt sich nach der Sitzung Fraktionschef Andreas Baum. Künftig soll die Meinungsfindung in den eigenen Reihen aber früher beginnen.
Im orangefarbenen Röckchen
Unterdessen geniesst die 19 Jahre alte Piratin Susanne Graf besondere Aufmerksamkeit. Als jüngstes Parlamentsmitglied verliest sie für die Konstituierung die Namen eines grossen Teils der Parlamentsmitglieder und ist Beisitzerin des Präsidenten. Mit orangefarbenem Röckchen über schwarzen Strumpfhosen und Oberteil steht die junge Frau im Plenarsaal und verteilt Stimmzettel für den Wahlgang. «Manche haben mich behandelt wie ein kleines Mädchen», berichtet sie hinterher.
Aber die Piratenfraktion will sich von den etablierten Politikern nicht von oben herab behandeln lassen. «Mit Verlaub, Herr Präsident, aber ich heisse Christopher», erwidert der am Rednerpult stehende Lauer, nachdem das Parlamentsoberhaupt die letzte Silbe seines Namens verschluckt hat. Ob der von Oberpirat Baum für seine Fraktion formulierte Anspruch auf politische Mitbestimmung Realität wird, müssen nun die kommenden Wochen zeigen.
dapd/kle
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