«Pokémon» für Kulturliebhaber
Im Bergell ist der erste multimediale Kulturwanderweg der Schweiz entstanden. Er widmet sich dem Leben und Schaffen der Künstlerfamilie Giacometti – eine wichtige Rolle spielt dabei die Bergidylle.

Die Wanderer am Ufer des Silsersees ahnen nichts. Denn das Freilichtmuseum, das kürzlich im Bergell entstanden ist und sich von Sils im Engadin bis über die Landesgrenze nach Chiavenna erstreckt, ist unsichtbar. Ausschliesslich über das Smartphone lässt sich der neue «Giacometti Art Walk» entdecken – mittels einer App.
Sie hält Karten für fünf Themenwege bereit, die der Wanderer herunterlädt, bevor er aufbricht. Darauf eingezeichnet sind etliche Wegpunkte, an denen Überraschungen auf den Wanderer warten. Mancherorts sind es Anekdoten aus dem Leben der berühmten Künstler der Familie Giacometti, dann wieder Bilder mitsamt Entstehungsgeschichte oder Orte, die für die Kunstschaffenden von Bedeutung waren.
Im Dorf, wo alles begann
Es ist wie «Pokémon Go» für Kulturinteressierte. Denn Zugang zu den einzelnen Überraschungen hat nur, wer vor Ort ist und an den Wegpunkten vorbeigeht. Ein diskreter Klingelton des Handys lässt den Wanderer wissen, wann es jeweils so weit ist. Etwa am Seeufer bei Maloja. Dort steht der Kulturwanderer still, blickt erst auf sein Telefon, das eben gebimmelt hat, dann Richtung See, hinaus zu den imposanten Berggipfeln hinten im Tal. «Silsersee mit Corvatsch» heisst dieser Wegpunkt – einer von elf auf dem sieben Kilometer langen Themenweg «Am Seeufer». Auf dem Bildschirm erscheint dort ein farbenstarkes Bild vom Corvatsch, das Giovanni Giacometti 1929 gemalt hat.
Im Bergeller Dorf Stampa,in dem die Künstlerfamilie lebte, beginnen gleich zwei Themenwege: «Stampa» und «Leben und Tod». Auf seiner kulturellen Schnitzeljagd lernt der Wanderer hier etwa Nelda Negrinikennen. Eine junge Frau, die in der damaligen Dorfbeiz Piz Duan arbeitete, in der Alberto Giacometti morgens Kaffee trank. Heute ist dort eine Ausstellung über die Künstlerfamilie zusehen.
«Jedes Mal, wenn er da war, fing er an, mit den Fingernägeln auf der Tischplatte zu zeichnen.»
In einem Kurzfilm erzählt Nelda Negrini von ihrer Begegnung mit dem Mann, der als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts gilt. Die Begebenheit ist mit Schauspielern nachgestellt, was den Kulturwanderer in die längst vergangene Szene eintauchen lässt. «Jedes Mal, wenn er da war, fing er an, mit den Fingernägeln auf der Tischplatte zu zeichnen», erinnert sich Negrini.«Er zerkratzte sie, und jeden Morgen musste ich seinen Tisch wieder in Ordnung bringen.» Im Film ist zu sehen, wie der Künstler dabei geistesabwesend an einer Kippe zieht.
Die Serviertochter bittet Giacometti, er möge mit dem Gekratze aufhören und Papier benutzen. «Darauf fragte er mich, ob ich ihm Modell sitzen wolle», fährt Negrini fort. Doch als sich Giacometti daran macht, das Gesicht der Frau zu malen, wird er wütend, führt die Zeitzeugin aus. «Er fluchte, weil es ihm nicht gelang, meine Augen und meine Nase abzubilden.» Und dann erfährt der Wanderer vom Künstler selbst, warum er sich so schwer damit tat: «Beim Auge ist der Ausdruck nicht in der Mitte. Der Blick entsteht aus dem, was das Auge umgibt.»
Ein erschütternder Film
So reiht sich längs der Themenwege Anekdote an Anekdote, Filmsequenz an Bild – ergänzt durch Hintergrundinformationen auch über die Region, die an sich schon eine Reise wert ist. Mosaikartig entsteht durch die Wegpunkte ein Bild über das Leben und Schaffen der renommierten Künstler. Es ist, als würde man Alberto, Giovanni und Augusto Giacometti kennen lernen, denn in den 20 Kurzfilmen geben 20 Zeitzeugen auch sehr Persönliches preis. So schildert Negrini auch, wie Alberto Giacometti für sie wie ein Vater war. Ihren hatte sie als Elfjährige verloren. «Jedenfalls hatte ich ihn furchtbar gern. Und wie ich vermute, er mich ebenfalls.»
Der Kulturwanderer erhält auf seinem Weg auch Einblick in die Gefühlswelt der Künstler, erfährt von ihren Zweifeln, ihren Ängsten. Etwa im Laufe des Themenweges «Chiavenna», wo er in einer erschütternden Filmsequenz gemeinsam mit Alberto Giacometti erfährt, dass dieser an Krebs erkrankt ist.
Den Reiz des «Art Walk» macht die wohldosierte Mischung aus. Eine Mischung aus Kultur, emotionaler Nähe zu den Protagonisten und einer malerischen Kulisse, die eng mit den Giacomettis verknüpft ist. En passant erlebt der Wanderer die Schönheit des Bergells, entdeckt Orte, zu denen er ohne Themenweg kaum finden würde – etwa die allein stehende Kirche San Pietro auf dem Hügel La Mota, wo das Bild «Am Morgen der Auferstehung» von Augusto Giacometti zu sehen ist und wo dessen Entstehung erklärt wird. Oder «Albertos Höhle», in Realität ein imposanter Findling, der am Hang ob Stampa vor Jahrzehnten liegen blieb.
Ahnungslos spaziert keiner mehr entlang des Silsersees, der einmal mit der App dort unterwegs war. Man kommt nicht mehr umhin, die Naturkulisse mit den Giacomettis zu verbinden.
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