
Smart. Sachlich. Zuverlässig. Wenn Parlamentarier Innenminister Alain Berset beschreiben, klingt es wie ein Werbespot für nordisches Design.
In jüngster Zeit allerdings zeigt auch Bundesrat Berset Kanten. Vergangene Woche diskutierte der Ständerat zum dritten und letzten Mal über die Altersreform. Alles plätscherte gepflegt vor sich hin. Parlamentarier raschelten mit Papieren. Ständerat Philipp Müller mampfte einen Apfel. Ein Weibel brachte Espresso. Dann, gegen halb elf Uhr, erteilte der Ständeratspräsident Bundesrat Berset das Wort. Nach einigen grundsätzlichen Ausführungen wandte sich Berset SVP-Ständerat Alex Kuprecht zu, der in der Woche zuvor einen folgenreichen Antrag zur Reform eingereicht hatte. Berset sprach wie immer, ruhig und diszipliniert. Doch seine Worte waren Messer.
Eine Zirkusnummer
Über kaum ein Projekt habe das Parlament jemals so lange beraten wie über diese Altersreform, sagte Berset. «Vielleicht ist es jetzt nicht mehr der Zeitpunkt, um neue, ungeprüfte Lösungen aus dem Hut zu zaubern.»
Wer weiss, wie viel die 46 Ständeräte auf sich und ihre Chambre de Reflexion halten, kann erahnen, wie schmerzhaft eine solche Abqualifizierung ist. Kuprechts Eingabe zur Altersreform – eine Zirkusnummer.
Aber verständlich ist es durchaus, dass der Innenminister derzeit etwas angespannt reagiert. Worte wie Mammutreform oder Megaprojekt sind schnell dahingesagt. Für einmal aber passen sie. Bersets Altersreform ändert 15 Bundesgesetze und eine Verfassungsbestimmung. Die Berechnungen, Unterlagen und Protokolle zur Reform füllen ganze Regale. Fast 170 Stunden dauerten die Beratungen im Parlament, Arbeitsgruppen, Fraktionssitzungen und informelle Gespräche nicht mitgezählt.
Schon beim Amtsantritt skizzierte er die Reform
Und Berset selbst? Er hat einen Grossteil seiner ersten fünf Jahre im Bundesrat in diese Vorlage investiert. Schon kurz nach seinem Amtsantritt Anfang 2012 skizzierte er öffentlich die Grundzüge der Reform: erstens, Sicherung der Renten. Zweitens, gleichzeitige Überholung der ersten und der zweiten Säule.
Es war eine für schweizerische Verhältnisse höchst ungewöhnliche Wette mit der Geschichte. Bersets Vorgänger im Innendepartement, Pascal Couchepin und Didier Burkhalter, waren mit ihren Korrekturen bei der AHV respektive der beruflichen Vorsorge krachend gescheitert. Und jetzt sollten die Probleme gelöst werden, indem man sie verknüpft?
Die Verbindung der beiden Reformen stelle eine historische Chance dar, nur so könne die Blockade überwunden werden, sagte Berset damals. Und er sagt es seither immer wieder. Jedem, der seine Entscheidung infrage stellt.
Auf Messers Schneide
Heute nun wird sich zeigen, ob Bersets Wette aufgeht. Sagt der Nationalrat am späteren Morgen Ja zur Altersreform, ist Alain Berset auf dem besten Weg, sich in die Geschichtsbücher der Schweiz einzuschreiben. Sagt der Nationalrat aber Nein, ist die Reform vom Tisch, die ganze mühselige Arbeit für die Katz. Und der Freiburger Sozialdemokrat steht nach fünf Jahren in der Landesregierung mit nahezu leeren Händen da. Kommt hinzu: Auch wenn die Grünliberalen gestern Abend ins Ja-Lager gekippt sind, die Sache steht auf Messers Schneide. Jede Stimme zählt. Bleibt ein Nationalrat heute krank im Bett, stürzt einer mit dem Velo – es könnte den Ausgang dieser Reform und das historische Urteil über Bundesrat Alain Berset entscheiden.
Ihren Anfang nimmt diese Biografie in Belfaux FR, einem unscheinbaren Dorf der Voralpen-Schweiz mit 3200 Einwohnern, vielen Kreiseln und viel neuem Wohnraum für Pendler. Hier wuchs Alain Berset auf, hier lebt er auch heute noch mit seiner Frau, einer Literaturwissenschaftlerin und Künstlerin, und mit seinen drei Kindern.
Bersets Elternhaus sei ein Abbild des Kantons Freiburg, «Moitié-Moitié», erzählt ein Wegbegleiter. Der Vater stammt aus einer CVP-Familie. Die Mutter, Buchhändlerin, ist Sozialdemokratin und politisiert bis heute im Grossen Rat des Kantons Freiburg. Alain Berset schlägt nach der Mutter. Wie sie widmet er sich in der Jugend der Leichtathletik, läuft über 400 und 800 Meter. Nach dem Gymnasium und einem Zwischenjahr in Brasilien schreibt er sich an der Universität Neuenburg für Politikwissenschaft ein. In Neuenburg macht er auch seinen Doktor in Volkswirtschaft. Sein Professor ist Denis Maillat, der einige Jahre zuvor schon den heutigen Aussenminister Didier Burkhalter zu seinen Studenten zählte.
Die Methode Berset
In der Politik gelingt ihm ein Blitzstart. Im Jahr 2000, Berset ist gerade 28-jährig, vertritt er die SP bei der Revision der Freiburger Kantonsverfassung. Drei Jahre später nominiert ihn die Partei als Ständeratskandidaten. Eine Aufbaukandidatur, sagen sie in Freiburg. Doch Berset schlägt seinen bekannteren SP-Konkurrenten in sämtlichen Wahlkreisen und zieht als viertjüngster Politiker aller Zeiten ins Stöckli ein.
Hier verdient er sich rasch die Anerkennung seiner Kollegen. Sie hatten einen jungen Hitzkopf erwartet. Nun sitzt da ein kollegialer, weltgewandter Dialektiker. Einer, der es meisterhaft versteht, politische Differenzen in eloquent formulierten Betrachtungen zur Schweiz, zu ihrer Kultur und ihrer Geschichte aufzulösen. Man könnte es die Methode Berset nennen. Sie erweist sich als äusserst effektiv. Immer wieder gelingt es dem Novizen im Ständerat, Bürgerliche für seine Ideen zu erwärmen. Als das Parlament 2011 den Nachfolger von Micheline Calmy-Rey bestimmt, kann er sich auf die Unterstützung der Ständeräte verlassen.
Die feministische Elite um Verzeihung gebeten
Klar, dass Berset seine Methode auch in den letzten Wochen wieder wirken liess. So etwa, als er die feministische Elite der Schweiz anlässlich der Vorpremiere zum Film «Die göttliche Ordnung» demütig darum bat, ihm die Rentenaltererhöhung zu verzeihen.
Studieren liess sich die Methode Berset auch Anfang März an einem Treffen der Parlamentarischen Gruppe Christ und Politik. Trotz gedrängter Agenda sprach Berset an jenem Mittwochnachmittag in vertrauter Runde ausführlich zum 500-Jahr-Jubiläum der Reformation. Berset, ein gläubiger Katholik, schlug den Bogen von Calvin bis zum Brexit, von Bullinger bis zu Trump, um schliesslich bei der Schlacht bei Kappel anzukommen. Nach dieser Auseinandersetzung hätten sich die Altgläubigen und die Reformatoren darauf geeinigt, die Frage nach der religiösen Wahrheit künftig auszuklammern, erzählte Berset. Ohne diesen Schritt hätte es die Schweiz womöglich zerrissen. «Mir gefällt besonders, dass man diese Abkommen damals Landfrieden nannte. Landfrieden!»
Man kann davon ausgehen, dass sich einige der damals anwesenden bürgerlichen Nationalräte gerade in diesen Stunden fragen: Müsste der ideologische Streit um die Renten jetzt nicht ebenfalls ausgeklammert werden? Zugunsten eines Landfriedens in der Altersvorsorge? Bersets Wette wäre gewonnen.
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Porträt: Sieg oder Trümmerhaufen
Welche Wette mit der Geschichte Innenminister Alain Berset abgeschlossen hat.