Präsidialer Halbgott
Aller Voraussicht nach wird die enorme Machtballung beim Präsidenten der Türkei kein Glück bringen.

Die Türkei erhält eine neue Verfassung. Das wollen Präsident Erdogan und um die 50 Prozent der Wähler. Aller Voraussicht nach wird die enorme Machtballung beim Präsidenten der Türkei kein Glück bringen, sondern weniger Wohlstand, weniger Freiheit und mehr Korruption. Zugleich raubt sie der islamischen Welt ein bisher wenigstens halbwegs funktionierendes Vorbild. Das schadet der ganzen Welt.
Befürworter von Erdogan argumentieren dagegen, er habe die Türkei vorwärtsgebracht. Deshalb sei es gut, wenn er mehr Macht erhalte. Doch das ist ein Trugschluss. Früher sah sich Erdogan einigermassen fruchtbaren Anreizen gegenüber. Seine zukünftige Politik aber hängt von den durch die neue Verfassung gegebenen Anreizen ab. Und diese sind schrecklich. Die Gefahr von Machtmissbrauch durch den Präsidenten ist nur zu offensichtlich. Dagegen wenden viele Türken ein, Erdogan würde das niemals tun. Er sei ein aussergewöhnlich guter Mensch, quasi ein Halbgott. Zudem müsse er auch als allmächtiger Präsident weiterhin wiedergewählt werden, bliebe also demokratisch kontrolliert. Doch leider nützt beides nichts. Die neue Verfassung wird selbst mit einem Halbgott als Präsident scheitern.
Die neue Verfassung wird selbst mit einem Halbgott als Präsident scheitern.
Erstens untergräbt sie den demokratischen Wettbewerb. Selbst wenn weiterhin freie Wahlen stattfinden, wird es zu Erdogan kaum eine ernsthafte demokratische Alternative mehr geben. Ein anderer gewählter Präsident hätte ja die gleiche diktatorische Machtfülle wie Erdogan. Weil sich im neuen System aber niemand unabhängig von Erdogan als halbwegs vertrauenswürdiger Kandidat profilieren kann, wird es den Wählern immer zu riskant sein, einen anderen Kandidaten zu wählen. Erdogan wird deshalb auch bei schlechter Leistung «demokratisch» gewählt werden.
Zweitens werden übermächtige Regierungen auch dann bösartig, wenn sie von einem sehr guten Menschen geführt werden. Je besser und unbestechlicher der Führer ist, je weniger er selbst die Macht missbraucht, und je länger er voraussichtlich an der Macht bleibt, desto mehr Machtmissbrauchs- und Korruptionserträge bleiben für seine Entourage. Deshalb scharen sich gerade um gute Führer viele besonders machtsüchtige und korrupte Politiker. Halbgötter sind deshalb gegenüber ihren Mitarbeitern besonders misstrauisch und umgeben sich gerne mit Menschen, denen sie aus anderen Gründen vertrauen, etwa Familienmitgliedern und Freunden. Darunter leidet dann aber die Kompetenz der Regierungsmannschaft.
Gibt es einen Ausweg aus dem vorgezeichneten Niedergang der Türkei? Erdogan müsste wirksamen politischen Wettbewerb etablieren, indem er anderen Politikern die Chance gibt, sich als glaubwürdige Präsidentschaftskandidaten zu profilieren. Dazu müsste er die heute völlig überzentralisierte Türkei schnell und ernsthaft dezentralisieren, sodass sich seine Gegner wenigstens auf regionaler Ebene profilieren können. Natürlich ist das mehr als unwahrscheinlich. Aber vielleicht ist Erdogan ja wirklich so aussergewöhnlich, wie viele Türken meinen.
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch