Raushalten und Wegducken
Volker Kutscher lässt seinen Detektiv Gereon Rath in «Lunapark» zum sechsten Mal im Berlin der Zwanziger und Dreissiger ermitteln. Eine gespenstische Lektüre.

Kommt man mit Durchkommenwollen wirklich durch? Mit Wegducken? Damit, sich den Gegebenheiten der Zeit anzupassen? Weil sie halt so sind, wie sie sind, und es schon nicht so schlimm kommt, nicht schlimmer jedenfalls, als es gerade ist? Wo beginnt der Faschismus im eigenen Kopf?
Es gibt Fragen, die stellen sich mit unschöner Regelmässigkeit wieder. Würde Gereon Rath noch leben, würde er, der grosse Wegducker und Raushalter, wegen mancher Populisten-Appeasement-Talkshow seinen Altenheim-Fernseher mit der Gehhilfe traktieren. Weil er das alles schon mal erlebt hat. Das allerdings kann (leider) nicht passieren. Kommissar Rath, dem der Kölner Volker Kutscher nun schon seinen sechsten Fall aufgibt, den er im Berlin anno 1934 zu lösen hat, müsste heute schätzungsweise 112 Jahre alt sein.
Und was das Lesen von Raths Ermittlungen – die Kutscher 1928 und mit dem «Nassen Fisch» hat beginnen lassen, aus dem Tom Tykwer gerade eine Fernsehserie macht – so gefährlich macht, ist genau das: dass man Kutschers Erzählungen aus dem Alltag des aufkommenden und dann nach allen Seiten, auf allen Ebenen explodierenden Nationalsozialismus nicht nur mit dem querliest, was man über Hitlers Diktatur gelernt hat. Sondern auch mit dem, was gerade passiert. Wie sich Sprache verändert. Wie Anpassung funktioniert. Und Gewaltherrschaft entsteht. Wie schnell das alles geht. Wie unveränderlich bald alles scheint.
Der Röhm-Putsch
Nun sind wir also im Jahr 1934. Es ist Sommer. Es liegt etwas in der Luft. Man könnte Menschenfleisch riechen. Besser gesagt: Wir können das, weil wir ja immer schon mehr als Rath wissen, weil wir wissen, dass im Sommer mit dem Röhm-Putsch das grosse Reinemachen beginnt und die eigentliche Diktatur.
Ein Mörder geht um unter SA-Männern. Verdächtigt werden Kommunisten (die überhaupt für alles verdächtigt und verantwortlich gemacht werden). Gereon Rath, der Katholik aus Köln im Exil an der Spree, steckt immer fester in den Zwickmühlen, an deren Aufbau Kutscher seit Beginn seiner Serie arbeitet. Und er glaubt nicht, dass es so einfach ist, wie es ihm sein alter Kumpel Gräf versichert, der es inzwischen in der Staatspolizei zu einer Karriere gebracht hat. Die Ringvereine – so heissen die Gangsterbünde im Berlin der Zwanziger – mischen noch mit, obwohl sie offiziell zerschlagen sind. Namentlich die Nordpiraten.
Der Zentralplatz dieser Geschichte (in mehrfacher, auch in metaphorischer Hinsicht) ist der Lunapark. Das war mal eine Art Coney Island der Kaiserzeit. Ein Vergnügungspark mit allem, was man in den Zwanzigern hinbekam. Den Nazis ein Grauen. 1934 lag der Lunapark brach wie heute der Erwachsenenspielplatz in Plänterwald. 1935 wurde er abgerissen. Es sollten andere Stahlbäder kommen als das Funbad.
Noch hiessen die KZs noch nicht nicht KZs
So, wie es ist, ist es schon schlimm genug. In der Stadt herrscht die Gewalt. Vor der Stadt entstehen Lager für jene, die sich weigern mitzumachen am Projekt, Deutschland wieder gross zu machen, und jene, die nicht in das Projekt passen, alle Bunten, alle Andersgläubigen. KL heissen die Lager noch. KZ kommt später. Die Methode ist dieselbe.
Gereon Rath, erpresst vom Nordpiratenboss Marlow, wird in die Enge getrieben von seiner frei denkenden Gattin Charlie und von Fritze, dem Strassenjungen, den Gereon und Charlie aufgenommen haben und der nun von der Hitlerjugend träumt. Und dann wird auch noch Konrad Adenauer verhaftet.
Es kann keinen Helden geben in diesem Drama. Alle machen sich schuldig. Alle werden schmutzig vom braunen Dreck. Werden immer tiefer hineingezogen. Man kann sich da nicht wegducken, auch Gereon wird es nicht können. Wer durchkommen will, fährt gegen die Wand. Wenn schon nicht direkt, dann doch moralisch. Und vor der Geschichte. «Lunapark» ist schon eine ganz schön gespenstische Lektüre.
Volker Kutscher: Lunapark. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 560 S., 22,99 Euro.
Welt.de/Elmar Krekeler
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