Respekt verschafft sich der Skrupelloseste
Krimi der Woche: In «Die Alte» von Hannelore Cayre hat eine ältere Pariserin genug vom System und wird Drogenhändlerin.

Der erste Satz
Meine Betrüger von Eltern liebten das Geld instinktiv.
Das Buch
Mit krummen Geschäften kennt sich Patience Portefeux aus. Ihr Vater brachte damit die Familie prima durch. Ihr Ehemann ermöglichte ihr damit ein gutes Leben, bis er sehr früh verstarb. Viel erfährt sie auch in ihrem Job als Arabischübersetzerin bei Gerichten und bei der Polizei, mit dem sie sich seither durchbringt. Dass sie vom Justizministerium schwarz bezahlt wird und keine Sozial- und Altersversicherung hat, amüsierte sie am Anfang, doch «eines Tages fand ich es gar nicht mehr lustig». Sie ist jetzt Mitte fünfzig, ihre mittellose Mutter liegt im Pflegeheim, das Geld ist knapp. «Das Leben hatte mich geplättet wie das Bügeleisen, das ich jeden Abend benutzte, damit die Meinen trotz Geldmangel allzeit tadellose Kleider hatten.» Jetzt muss etwas passieren, sagt sie sich, denn sie spürt, «dass meine ganze Person vor Wut überlief wie ein Gully nach einem Gewitter». Und es passiert einiges im ziemlich schrägen Krimi «Die Alte» von Hannelore Cayre. In Frankreich wurde der moderne Schelmenroman – Originaltitel: «La daronne» – mit wichtigen Preisen ausgezeichnet und mit Isabelle Huppert in der Titelrolle verfilmt (ab März 2020 in den Kinos). Es ist die abenteuerliche Geschichte einer älteren, ziemlich grossmäuligen Dame, die sozusagen über Nacht zur Drogengrosshändlerin wird. Denn durch ihre Übersetzungsarbeit für die Polizei weiss sie von einer grossen Lieferung von allerbestem Haschisch aus Marokko, die nach ihrer Warnung vor einer geplanten Polizeiaktion bei einer Autobahnausfahrt vor Paris deponiert worden ist. Bald ist der Stoff, mehr als eine Tonne, in ihrem Keller eingelagert. Und dank ihrer Arbeit für die Polizei findet sie auch schnell Abnehmer. Eigentlich habe sie ja schon lange vom Drogenhandel gelebt, findet sie, «genau wie die Tausenden Beamten, die für seine Ausrottung zuständig sind». Dank der wütenden «Alten» – dass sie so genannt wird, erfährt sie beim Übersetzen abgehörter Anrufe – mit ihren giftigen Spitzen gegen das System und die Gesellschaft ist «Die Alte» ein rotzfrecher und lustiger Krimi. Er ist aber alles andere als ein harmloser Seniorenklamauk. Es geht da nicht nur um Drogenhandel und Geldwäsche, sondern ganz beiläufig auch um die französische Kolonialgeschichte und vor allem um aktuelle Themen wie das Verarmen des Mittelstands und ganz allgemein um die Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft, die sich auch bei illegalen Geschäften drastisch zeigen. Patience Portefeux kann mit den Ganoven mithalten: «Ich kenne das Spiel des Kapitalismus ebenso wie sie: Es ist der Skrupelloseste, der sich Respekt verschafft.»
Die Wertung
Die Autorin
Hannelore Cayre, geboren 1963 in Neuilly-sur-Seine, die ihren nicht sehr französischen Vornamen ihrer österreichischen Mutter verdankt, war zunächst in der Filmbranche tätig. Den Job als Finanzchefin einer Filmproduktionsfirma gab sie zugunsten der Juristerei auf und wurde Strafverteidigerin. 1991 wurde sie bei einem Autounfall in Chile beinahe querschnittgelähmt. Sie hat mehrere Drehbücher geschrieben und eigene Kurzfilme realisiert. Seit 2004 veröffentlichte sie fünf Romane. Vor «Die Alte» sind im Zürcher Unionsverlag bereits zwei Romane um den Lumpenadvokaten Leibowitz auf Deutsch erschienen, «Der Lumpenadvokat» (2007; «Commis d'office, 2004) und «Das Meisterstück» (2008; «Toiles de maître», 2005). «Commis d'office» hat Hannelore Cayre selbst verfilmt. Ihr bisher letzter Roman «La daronne» (2017, «Die Alte») wurde mit dem Prix du polar européen und dem Grand Prix de littérature policière ausgezeichnet. Die Verfilmung durch Regisseur Jean-Paul Salomé mit Isabelle Huppert in der Titelrolle kommt im März 2020 in die Kinos. Hannelore Cayre lebt in Paris.

Alle weiteren Besprechungen finden Sie in der Collection «Krimi der Woche».
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch