Es ist Erntezeit im Dorf Bukulu. «Endlich», freut sich Hadija Ali Dengu. Lang genug hätte sie darauf gewartet. Denn im letzten Jahr fiel die Ernte wegen extremer Trockenheit mickrig aus. «Es reichte nicht für die ganze Familie, sodass wir noch zwei Säcke dazukaufen mussten», sagt die Kleinbäuerin und Mutter von fünf Kindern. Genug Mais im Haus zu haben, sei überlebenswichtig. Fast jeden Tag bereitet sie in einer mit nur zwei winzigen Holzhockern eingerichteten Hütte traditionsgemäss an der offenen Feuerstelle Ugali zu, den sättigenden Brei aus Maismehl.
Viele Menschen sind in Tansania Selbstversorger und leben am Existenzminimum. Wer nichts zum Essen hat, ist auf die Hilfe von Nachbarn angewiesen oder muss schlichtweg hungern. «Früher musste ich oft bei anderen betteln», erzählt die 43-Jährige, die ihr acht Monate altes Baby auf dem Rücken trägt. Mit Flipflops und in bunt gewebten, bedruckten und gebatikten Tüchern läuft sie jetzt zu ihrem kleinen, etwas abseits des Dorfes gelegenen Hauses mit Wellblechdach. Vorbei an Rindern, Hühnern und Ziegen, die mitten auf dem staubigen Weg herumstehen. Vorbei an Agaven und Akazien, an einem Feld Hirse sowie an Mädchen, die volle Plastikeimer auf dem Kopf balancieren.
Täglich Wasser schleppen
Die zierliche Frau steht jetzt zwischen den hoch gewachsenen Maispflanzen. Krachend bricht sie die Kolben ab und entfernt die vertrockneten Blätter. Ihr Gesicht strahlt Zuversicht aus. Sie freut sich auf die neue Ernte. Danach geht sie mit einem Kanister und einer Schüssel zum Flussbett. Dorthin, wo Frauen aus dem Dorf ihre Wäsche waschen, über den Sträuchern ausbreiten und trocknen lassen. Unweit davon schöpft sie aus einem bereits gegrabenen Loch Wasser. Denn eine Wasserleitung oder einen eigenen Brunnen hat sie nicht. Jeden Tag schleppt sie mehrmals Wasser. Seit einem Jahr hat sie dank einer gemeinschaftlichen Solaranlage für 100 Haushalte jedoch Strom, sodass sie kein Kerosin mehr braucht, um damit nach Einbruch der Dunkelheit die Lampe zu betreiben. «Und das Handy kann ich jetzt sogar zu Hause aufladen», sagt sie.
Genau an diesem Ort, fernab der Grossstädte, mitten im Maisanbaugebiet bei den Ärmsten der Armen, hat die Universität Zürich eine Studie lanciert, um das oft vernachlässigte Problem des Food-Waste zu untersuchen. Mit dabei sind Spezialisten der Schweizer Entwicklungsorganisation Helvetas, die dort im Auftrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) gegen Nachernteverluste ankämpfen.

Dabei geht es vor allem um das Management nach der Ernte. Denn in Tansania und anderen subsaharischen Ländern verderben etwa ein Viertel der Nahrungsmittel durch unsachgemässe Verarbeitung und Lagerung. Um dies genau zu analysieren, haben die Zürcher über 1000 Kleinbauern in den Regionen von Kondoa und Kilosa in ihre Untersuchung einbezogen. Der Zufall entschied, ob sie die mehrschichtigen, luftdicht mit Schnüren verschliessbaren Plastiksäcke für die Lagerung der Maiskörner erhielten oder zur Kontrollgruppe nach dem Motto «Business as usual» gehörten.
Gegen Schimmel
«Die Spezialsäcke verhindern den Befall von Schädlingen und Schimmel», sagt Michael Brander von der Universität Zürich. Viele schätzten die Methode, weil sie ohne Pestizide auskomme und auch für die Gesundheit besser sei. Denn um die Ernte zu lagern, hätten die Kleinbauern bisher stets herkömmliche Plastiksäcke und viel Chemie verwendet. Bedenklich ist, dass sich viele dabei aus Unkenntnis oder aus der Not heraus nicht an die Vorschriften für den Einsatz der Pestizide halten.
«Einige verzehren den Mais schon nach weniger als einem Monat, wenn die Substanz noch nicht vollständig abgebaut und deshalb schädlich ist», erklärt Martin Fischler von Helvetas, der als Regionalkoordinator seit 15 Jahren für Tansania zuständig ist. Doch die Kleinbauern in Ostafrika hätten oft keine Wahl, da sie keine anderen Vorräte mehr hätten und sonst Hunger leiden würden.

Hadija Ali Dengu weiss, was es heisst, wenn das Lebensmittellager leer ist. Als Kind und später auch als junge Frau habe sie dies häufig erlebt. Es sei eine sehr harte Zeit gewesen, erinnert sie sich. Wenn sie bei einem Bauern Arbeit fand, war sie sieben Tage die Woche auf den Feldern. Nur bei Krankheit wie starken Bauchschmerzen blieb sie zu Hause. Auch ihr Mann schuftete nonstop, sodass sie irgendwann genug gespart hatten, um sich ein Stück Land für den Anbau von Mais, Sonnenblumen und Kichererbsen zu kaufen. Inzwischen verdient er gelegentlich auch mit dem Verkauf von Secondhandkleidern auf einem Markt in Moshi etwas Geld.
Preisschwankungen bremsen
Die Dorfbewohner sind an diesem Donnerstagvormittag im Juni alle zusammengekommen, um über die Vorteile der hermetischen Lagertechnologie zu berichten: keine Ernteverluste und keine Pestizide. Hadija Ali Dengu war jedoch in der Kontrollgruppe der Zürcher Studie und machte so weiter wie bisher. Nun überlegt sie sich, für die kommende Ernte selbst ein paar hermetische Säcke zu kaufen. Doch der Preis sei weiterhin noch recht hoch: knapp zwei Dollar für einen Sack.
Alle Teilnehmer an der Zürcher Studie beantworteten jede Woche Fragen über die aktuellen Marktpreise und erhielten als Gegenleistung ein Guthaben für zehn Gratis-SMS. «Wir wollten herausfinden, ob sich durch die verbesserte Lagerungsmethode langfristig auch die Preisschwankungen auf dem lokalen Markt reduzieren», sagt Matthias Huss von der Universität Zürich. Denn kurz nach der Ernte sind die Preise meist tief. Wird das Angebot mit der Zeit knapper, steigen sie dann häufig stark an.

«Dank der hermetischen Säcke können die Kleinbauern ihre Ernte länger lagern, haben mehr Entscheidungsfreiheit über den Verkaufszeitpunkt und müssen ihre Maisvorräte nicht mehr zu Spottpreisen verhökern», erklärt er. Dies verbessere die Einkommenssituation und letztlich auch die Ernährungssicherheit der jeweiligen Familie. In den schwierigen Zeiten insbesondere kurz vor der nächsten Ernte hätten im Vergleich zur Kontrollgruppe insgesamt ein Drittel der Kleinbauern weniger hungern müssen.
Verletzter Bulle
Mit dem Bus geht es früh am Morgen auf holprigen Strassen nach Mnenia bei Kondoa. Zwei Jungen treiben eine Herde Ziegen durch das Dorf und rennen ihnen hinterher. Ein kleines Kind rollt ein Hinterrad eines Velos ohne Reifen über den unebenen Boden und versucht, dass es nicht so schnell umkippt. Nicht weit davon steht Aisha Ramadan mit einem Bullen, den sie wegen seines verletzten Horns verkaufen will. Sie erzählt von ihrem Nachbarn, dem aufgrund der heftigen Überschwemmungen im Frühjahr die ganze Maissaat weggespült wurde und der alles nochmals säen musste. Die Erntezeit habe sich dadurch stark verzögert.
Auf dem Dorfplatz mischt sich nun der Agrodealer Estomithi Mringko unter die versammelte Dorfbevölkerung. Er fällt auf, weil er der Einzige ist, der eine Brille und auch noch ein buntes Hemd trägt. Er verkauft in der Region Pestizide, Dünger und Saatgut, aber auch die modernen hermetischen Plastiksäcke und Metallsilos. Zum Beispiel an Amina Issa Omari und ihren Mann.
Die beiden sind in der Gruppe, die im Rahmen der Zürcher Studie jeweils fünf neue Säcke kostenlos zum Testen erhielt. Das Ehepaar zeigt den fast leeren Lagerraum und klagt über die schlechte Ernte im vergangenen Jahr. Fast drei Viertel hätten sie 2017 durch die ungewöhnlich lange Trockenperiode verloren und statt 30 Säcken nur 8 geerntet. Zum Glück seien sie aber noch Besitzer eines Ladens im Dorf, wo man von Fanta über Bohnen, Metallschlösser, Pflaster bis zu Bürsten praktisch alles Wichtige kaufen kann. Sie arbeiten viel, damit ihre Kinder eine gute Schulbildung bekommen. Die beiden Älteren ihrer vier Kinder gehen auf ein Internat.
Wie Gold in einer Schüssel
Auf ihrem Hof führen sie vor, wie gut sich der Mais in den neuen Säcken hält. Diese sind fest zugebunden, sodass es lang dauert, die vielen Knoten zu lösen. Schicht für Schicht legen sie das kostbare Gut frei, aus dem auch sie den beliebten Ugali kochen. Dann schütten sie die Maiskörner, die im grellen Sonnenlicht geradezu golden schillern, in eine Plastikschüssel. Die dabei heruntergefallenen Körner sammelt ihr kleiner Sohn schnell ein und wirft sie zurück.
«Der Maiskäfer hat in dem luftdichten Sack oder in einem Metallsilo keine Chance mehr», erklärt Martin Fischler von Helvetas, der ursprünglich Agrarwissenschaften an der ETH Zürich studierte. Ist der Schädling beim Abfüllen doch irgendwie hereingekommen, erstickt er nach kurzer Zeit. In den herkömmlichen Säcken und ohne den Einsatz von Pestiziden können sie sich dagegen ungehindert vermehren. «Oft muss man nach ein paar Monaten die Hälfte des Inhalts eines solchen Sacks wegschmeissen», sagt Fischler.
In Bukulu, wo Hadija Ali Dengu in der Nähe des Flusses lebt, haben die Jungs dagegen ganz andere Sorgen. Sie interessieren sich noch nicht für die Maisschädlinge und die damit verbundenen Verluste von Nahrungsmitteln, sondern vor allem für Tore. So rasen sie barfuss oder in Plastikschlappen einem Schaumstoffball hinterher, wetteifern und kämpfen, trippeln und tricksen, jubeln und fluchen. Mit Sicherheit werden sie das eine oder andere Spiel der Weltmeisterschaft verfolgen. Denn im Gemeinschaftsraum, wo vor drei Wochen noch über die neuen Vorratssäcke diskutiert wurde, läuft jetzt der Fernseher. Einer für alle.
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Sackstark gegen Ernteverluste
In Tansania vernichten Schädlinge oft die Maisvorräte. Zürcher Forscher untersuchen, wie Spezialsäcke die Lagerung verbessern und Menschen weniger hungern.