Ernüchterung im Silicon ValleySan Francisco fällt aus allen Wolken
Wer in diese Metropole ging, folgte viele Jahre dem Versprechen auf eine goldene Zukunft. Nun haben die Techkonzerne Tausende Menschen entlassen. Und auf den Strassen breitet sich das Elend aus.

San Francisco, Strassenecke Market/Polk: Im fünften Stock der Firmenzentrale von Twitter bastelt Elon Musk an dem Spielzeug, das er sich für 44 Milliarden Dollar gegönnt hat, weil er offenbar daran glaubt, dass er mit Twitter Welt und Menschheit retten wird.
Auf Twitter hat er seine mehr als 100 Millionen Follower gefragt, was das Beste im Leben sei, und ihnen dann gesagt, dass sie etwas finden mögen, das sie wirklich glücklich mache.
Unten auf der Strasse steht ein junger Mann, Mitte 20; er hält ein Pappschild hoch mit der Botschaft, dass ihn eine Umarmung von Musk glücklich machen würde. Neben ihm sitzt eine Frau, Ende 40, obdachlos. Sie pinkelt aufs Trottoir, während die Leute ihr dabei zuschauen. Luftlinie zwischen einer der reichsten Personen der Welt und dieser Frau: keine 50 Meter.

Im letzten Sommer erschien auf dem Portal «The Atlantic» die Geschichte: «Wie aus San Francisco eine gescheiterte Stadt wurde.» Die Autorin Nellie Bowles beschreibt darin das Versprechen, das diese Stadt seit dem Goldrausch gegeben hat: ein besseres Leben, eine bessere Welt.
Sie beschreibt auch, wie sich die Bewohner in ihrer progressiven Selbstgerechtigkeit selbst im Weg stehen, weil sie nicht einsehen, dass es gelegentlich auch gute konservative Ideen gibt. Sie beschreibt, wie während des Lockdown all das Schlechte, das man im Trubel ums Gutsein und Weltverbessern einfach ignoriert hatte, nicht mehr übersehen werden konnte: Vor einer 4,8 Millionen Dollar teuren Villa im Stadtteil Japantown starb ein 37 Jahre alter Obdachloser. Elf Stunden lag er auf dem Trottoir, bevor jemand die Polizei rief.

Auf der Strasse rammen sich Leute eine Nadel in den Arm, onanieren vor aller Augen. An der UN Plaza im Viertel Tenderloin, fünf Minuten von der Twitter-Zentrale entfernt, stinkt es nach Urin, Fäkalien, Erbrochenem.

275’000 Millionäre leben in der San Francisco Bay Area
In der San Francisco Bay Area, zu der auch das Silicon Valley im Süden gehört, leben 77 Milliardäre – mehr gibt es nur in New York. Es leben hier mehr als 600 Leute, die mehr als 100 Millionen Dollar besitzen. Dazu kommen 275’000 Millionäre. Man muss inzwischen eigentlich Millionär sein, um sich diese Stadt leisten zu können.

Wer es nicht ist, muss gehen, wie Matthew Schwartz (40) und seine fünf Jahre jüngere Frau Kira. Sie zogen 2016 nach San Francisco in die Strasse, in der Airbnb gegründet worden ist. Sie arbeitete als IT-Beraterin bei der Analysefirma Gartner, er bei einer Firma, die nachhaltige Häuser baut. Gemeinsames Jahresgehalt: 300’000 Dollar. «Das ist nicht viel in einer Stadt, in der eine kleine Wohnung 4000 Dollar Miete kostet – plus 300 Dollar für eine Garage.»
Seit 2020 wohnt er in Los Angeles.
«Wenn du schon auf der Strasse sterben musst, dann ist San Francisco kein schlechter Ort dafür.
Nellie Bowles schreibt in ihrem Essay: «Wenn du schon auf der Strasse sterben musst, dann ist San Francisco kein schlechter Ort dafür. Beamte und Freiwillige bringen Essen und Decken, Nadeln und Zelte. Ärzte schauen, dass die Drogen wirken. Und sie sorgen dafür, dass der Rest von dir okay ist, während du dieses Leben verlässt.»

Seit Mitte der Sechzigerjahre ist San Francisco in demokratischer Hand, 2020 stimmten mehr als 85 Prozent für Joe Biden. Für die Republikaner steht das, was in San Francisco passiert, symbolisch für die Demokraten: die Welt verbessern und jedem sagen wollen, wie das geht – aber den eigenen Laden nicht beherrschen. Das Schimpfwort dafür: «San Francisco Values».
Wer im Jahr 117’000 Dollar verdient, gehört zur Unterschicht
Der enorme Erfolg zahlreicher Unternehmen übertünchte die dunklen Flecken. Das ist vorbei. Twitter, Amazon und Meta entliessen Tausende Mitarbeitende. Allein im November verloren 35’000 Menschen in der Techbranche ihre Jobs. Gemäss der Statistik-Website «Layoffs» gab es 2022 insgesamt 150’000 Entlassungen. Man darf dabei nicht vergessen, dass es in den USA keine Kündigungsfristen oder sozialen Absicherungen gibt wie in Europa.
Twitter galt vielen als guter Arbeitgeber, weil man in dem Moment, als in San Francisco das Elend sichtbar wurde, nicht mehr dorthin musste. Die Covid-Pandemie war für viele in dieser Silicon-Valley-Techgemeinde eine Befreiung. Viele zogen weg in günstigere Städte. Twitter gehörte zu den Unternehmen, die auch gegen Ende der Pandemie den Angestellten erlaubten, weiter im Homeoffice zu bleiben. Gründer Jack Dorsey sagte gar: «Für immer.»
Dann kam Elon Musk. In einer E-Mail an alle schrieb er, dass er von ihnen erwarte, dass sie pro Woche mindestens 40 Stunden im Büro sein würden. Dann kam die Entlassungswelle.

Mit einem Jahresgehalt von 117’000 Dollar und weniger gehört man in San Francisco zur Unterschicht. Techkonzerne sind jedoch berühmt dafür, dass sie Mitarbeitern grosszügige Extras gewähren: Gratisessen, Gratiskaffee oder Gratiswäscherei. Man redet über diese Annehmlichkeiten bisweilen, als dienten sie einzig dazu, die Mitarbeiter zu motivieren oder sie ein wenig länger im Büro zu fesseln. Was man vergisst: Sie sind für viele lebensnotwendige Zulagen. Ohne sie könnten sie sich das Leben in San Francisco ganz einfach nicht leisten.
Das Massachusetts Institute of Technology berechnet regelmässig den Stundenlohn, der nötig ist, um in einer US-Stadt zu überleben. In San Francisco sind für kinderlose Singles 30,81 Dollar nötig, mehr als das Doppelte des gesetzlichen Mindestlohnes. Aufs Jahr gerechnet, wie es die Analysefirma Marketwatch getan hat: Wer in San Francisco 100’000 Dollar im Jahr verdient und wirklich nur das absolut Nötigste ausgibt, macht am Ende 2734 Dollar Verlust.
Viele zieht es weg
Musk fordert von Twitter-Angestellten, dass diese hardcore sein müssten für: ja, wofür eigentlich? Er lieferte sich auf Twitter eine Fehde mit dem Entwickler Eric Frohnhoefer über Arbeit und Annehmlichkeiten wie Gratismittagessen. Zuletzt schrieb Musk über Frohnhoefer auf Twitter: «He’s fired.»
Frohnhoefer ist mittlerweile in San Diego und checkt nun Angebote. Auch das ist typisch fürs Silicon Valley: Leute in der Techbranche wissen, dass sie schnell gefeuert werden, aber auch sehr schnell einen neuen Job finden.
«San Francisco ist die Stadt mit der niedrigsten Geburtenrate aller Metropolen in den USA», erzählt Matthew Schwartz. Es komme für viele der Moment, in dem man die negativen Aspekte nicht mehr ausblenden könne. «Wir sassen auf unserem Balkon, und dann hörten wir unten eine Frau, die offenbar Drogen genommen hatte und eine halbe Stunde lang in Schmerzen wirres Zeug brüllte. Meine Frau und ich waren uns einig: Hier wollen wir keine Kinder haben.» Sie zogen während der Pandemie 2020 nach Los Angeles, weil es dort billiger und kinderfreundlicher sei als in San Francisco.
«Wenn jemand direkt von der Uni ein sechsstelliges Gehalt für einen spannenden Job bei einem Start-up geboten kriegt: Warum nicht?»
Das Bureau of the Census, das die Einwohnerzahlen ermittelt, veröffentlichte Mitte Oktober eine Umfrage, gemäss der 7,6 Prozent der Bewohner von San Francisco 2023 in eine andere Stadt ziehen wollen. Das ist Platz eins unter den Metropolen.
«Ich will nicht zu sehr auf San Francisco schimpfen», sagt Schwartz. Aber seine Lebenspläne – er wollte Mitte 30 eine Familie gründen (mittlerweile hat er zwei Kinder) und ein Haus besitzen (tut er nun im Süden von Los Angeles) – passten nicht mehr in diese Stadt: «Wenn jemand direkt von der Uni ein sechsstelliges Gehalt für einen spannenden Job bei einem Start-up geboten kriegt: Warum nicht?»

Der Ehrgeiz wird somit weiterhin gerade junge Leute ins Silicon Valley und speziell nach San Francisco führen, wo sie ein sechsstelliges Gehalt und Aktien kassieren. Dafür muss man bereit sein, auf dem Spaziergang vom Twitter-Firmensitz zum 400-Dollar-Dinner Leuten zu begegnen, denen nichts anderes übrig bleibt, als auf dem Trottoir zu schlafen.
Scott McKenzie hat 1967, als San Francisco mehr Utopie war als wirklicher Ort, darüber gesungen, dass man sich Blumen ins Haar stecken solle, wenn man hierherkomme. Heute, 2022, braucht man vor allem eines: Scheuklappen.
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