Schlürfen oder kauen
Der Holländer Jan Geertsema hat eine Passion: wilde Austern aus dem Wattenmeer. Für den Fischer sind sie der lebende Beweis dafür, dass sich der Einsatz für einen sauberen Rhein lohnt.

Wer an Austern denkt, dem kommen in aller Regel langbeinige Frauen in Cocktailkleidern und langweilige Männer in Smokings in den Sinn. An einem prunkvollen Empfang stehen sie unter Kronleuchtern, nippen an Champagnergläsern und schlürfen die Edelmuscheln. Das Bild zerfällt, wenn man das Glück hat, Jan Geertsema kennen zu lernen.
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Der 45-jährige Fischer mit den langen, zusammengebundenen Haaren fährt nicht nur mit seinem Boot aufs Meer hinaus, sondern er ist regelmässig auch zu Fuss unterwegs und sammelt Austern: im Wattenmeer, wenn sich die Flut zurückgezogen hat. Dass dies überhaupt möglich ist, hat eine lange Vorgeschichte, die zu erzählen Geertsema nach Zürich gereist ist, an den Slowfood Market. Zusammen mit seiner Frau Barbara, einer der wenigen Fischerinnen in Holland.
Gerade mit seinem Bus und einigen Kisten wilder Austern angekommen, wird er gefragt, ob er ein Glas Wasser oder lieber etwas Weisswein möchte: «Ins Wasser pissen die Fische», gibt er zu verstehen. Er dreht sich eine Zigarette und erzählt, dass er seinen Personalausweis in Holland vergessen und sich vor zwei Tagen drei Rippen gebrochen habe. Tut das denn nicht wahnsinnig weh? «Pijn is fijn, bloed is goed», sagt er und meint damit ungefähr: «Schmerzen sind gut, denn sie zeigen, dass du noch lebst.»
Grosser Appetit in England
Die Geschichte der wilden Austern, die Geertsema vor ein paar Stunden noch aus dem Wattenmeer geholt hat, beginnt unschön: Vor dem Jahr 1850 war rund ein Viertel der Nordsee mit Austernbänken bevölkert – doch durch die einsetzende Überfischung (Grossbritannien hatte einen Wochenbedarf von 6 Millionen Stück), die Industrialisierung und die wachsende Bevölkerung entlang des Rheinufers kam die europäische Auster in Bedrängnis. Dass die Holländer zudem mit ihren Deichen das Salz- vom Süsswasser getrennt hatten, tat das Seinige, dass die Art – von Zuchten abgesehen – heute praktisch ausgerottet ist.
Eine andere, invasive Art, nämlich die aus dem Fernen Osten eingeführte pazifische Auster, sprang jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Bresche. Auch die «neuen» Wildaustern vermochten das Meerwasser zu reinigen, was man begrüsste. Doch da tauchte bereits die nächste Katastrophe am Horizont auf: das Sandoz-Unglück von 1986, das vernichtende Wirkung bis in die Nordsee hatte; auch die pazifischen Wildaustern waren als Folge davon bedroht oder zumindest ungeniessbar.
«Glücklicherweise zeigten die bald einsetzenden Umweltschutz-Bemühungen der Schweizer und Deutschen, der Belgier und Luxemburger Wirkung», sagt Jan Geertsema und nimmt einen Schluck Wein. «Wir können heute die pazifischen Austern aus dem Wattenmeer wieder essen. Sie sind köstlich.» Um dies zu demonstrieren, bringe er regelmässig «Muscheln zum Berg hoch», also in die Schweiz, erzählt er. Die saubere Natur mache ein gutes Produkt, dies sei auch der Grund, warum wilde Austern viel besser schmeckten als gezüchtete, wie man sie in Frankreich kenne.
Als wollte er das Gesagte verdeutlichen, nimmt er eine seiner teils imposant grossen Austern, öffnet sie geschickt mit einem Austernmesser und zeigt, wie man sie schlürft: «Leicht vorbeugen, ansetzen und den Kopf nach hinten kippen.» Soll man die Muschelart eigentlich kauen? «Aber sicher schon», sagt er. Als er 1996 mit dem Austernsammeln begann, mochte er den Geschmack der Meeresfrüchte ganz und gar nicht, auch wenn er stets ein Exemplar hinunterschluckte, um die Verträglichkeit zu prüfen. Eines Tages sagte ihm ein Freund aus Spanien, er sei ein Idiot. So hätte er nur den Wassergeschmack im Mund. «Ich kaute erstmals und entdeckte den echten Austerngeschmack.»
Die edle Essenz für Sterneköche
Der Blick fällt auf die Hände von Jan Geertsema. Die Haut ist rau, unter den Nägeln sieht man die Spuren seiner Arbeit. Er liebe seine Hände: «Meinen ersten Fisch habe ich mit fünf Jahren von Hand gefangen. Als ich die Fischerei zum Beruf machte, war es wieder so, als ob ich fünfjährig wäre. Ich will nie wieder zurück ins Büro», sagt der ehemalige Student des Fachs Umweltwissenschaft.
Unzählige Anekdoten hat Geertsema parat: Er weiss etwa, dass New York eigentlich nur gegründet worden ist, weil dort vor der Küste unzählige Austern wuchsen. Oder dass in der Schweiz – wenn denn die Holländer endlich die entsprechenden Schleusen öffnen – bald schon wieder wilde Lachse in den Flüssen schwimmen könnten. Wie isst er seine Austern denn sonst noch, wenn nicht roh? Die Rezepte sprudeln nur so aus ihm heraus: Man könne sie zum Beispiel in den Mixer geben und mit der so entstandenen Paste einen ganzen Wolfsbarsch bestreichen – in den Ofen damit, und fertig! Oder die Austern mit Koriander und Minze, beides klein gehackt, bestreuen und dann einen Löffel 150?Grad heisses Olivenöl darüber geben. Allenfalls etwas Öl wieder weggiessen. «Austern auf ihrem Bett aus Marrakesch», nennt er das.
Spannend sei es, aus 10 Liter Austernwasser, den dazugehörenden Austern, 200 Milliliter Sojasauce und drei Knoblauchzehen eine Reduktion herzustellen («Bei 65 Grad stundenlang köcheln, bis ein halber Liter Flüssigkeit übrigbleibt») und diese dann durch ein Sieb zu passieren. Die so entstehende Delikatesse fände Verwendung bei den Gebrüdern Hartering, die in Amsterdam ein Gourmetlokal betrieben: «Ein Tropfen davon, und du wirst fast verrückt», beschreibt Jan Geertsema die Geschmacksexplosion im Gaumen.
Er mag Austern auch gekocht und mit Speck umwickelt, Austern vom Grill oder eben: ganz pur. Und ob man Zitronensaft drüberträufle oder nicht, sei eh Geschmackssache. Dass die Zitrusfrucht zum Genuss dazugehöre, sei ein historisches Missverständnis: «Früher war die Zitrone einfach ein Statussymbol, das sich manche Kreise halt leisten konnten, andere nicht», erzählt Geertsema.
Wer also irgendwo auf wilde Austern aus dem Wattenmeer stösst, sollte zugreifen. Sie direkt aus der Schale schlürfen, sie genüsslich zerkauen. Der Geschmack am Gaumen wird bleiben und bleiben und bleiben, und, ja, ein wenig an Tränen erinnern. Tränen des Glücks.
Geertsema-Austern wird es nächstes Mal am 23. und 24. Dezember im Berg und Talin den Viaduktbögen geben.
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