
In knapp drei Wochen ist Silvester. Die Chance ist gross, dass Sie beim Anstossen den immer gleichen Seufzer zum Besten geben werden: «Schon wieder ein Jahr vorbei! Wahnsinn, wie die Zeit rast!»
Dabei wäre das Rasen der Zeit völlig unproblematisch, wenn unsere eigene Zeit endlos wäre: Weshalb sich grämen, dass eins ums andere Jahr verstreicht, wenn wir noch hundert, tausend oder unendlich viele Jahre vor uns hätten? Was uns zu schaffen macht, ist nicht, dass die Zeit vergeht, sondern dass wir es sind, die vergehen, und unser Dasein ein Ablaufdatum hat.
Die Einsicht in die Begrenztheit des Lebens verleiht der eigenen Existenz mehr Tiefe und Sinn.
Mir bleiben, wenn ich die statistische Wahrscheinlichkeit betrachte, noch rund 37 Jahre. Das sind 13’505 Tage, 324’120 Stunden oder 1'166'832'000 Sekunden. Die Anzahl Sekunden finde ich besonders erschütternd. Das hat wohl damit zu tun, dass Jahre seltsam abstrakt scheinen, während Sekunden konkret sind. Wenn Sie den Text zu Ende gelesen haben werden, werden rund 120 Sekunden Ihrer Lebenszeit verstrichen sein.
Die Philosophie macht sich die Einsicht in die Begrenztheit des menschlichen Lebens seit Jahrtausenden zunutze, um der eigenen Existenz mehr Tiefe und Sinn zu verleihen. Für Martin Heidegger sind wir zum Beispiel meist «uneigentlich» da, gefangen in Konventionen und Fremdansprüchen.
Ein gutes und sinnvolles Leben ist uns nur geschenkt, wenn wir uns aus Verblendungszusammenhängen lösen und in die «Eigentlichkeit» finden. Blicken wir unserer Sterblichkeit ins Auge, sind wir Heidegger zufolge viel eher in der Lage, uns zu dem zu entschliessen, woran uns wirklich liegt. Angesichts unserer Endlichkeit duldet das Leben nämlich keinen Aufschub.
Das ist auch die Ansicht von Jean-Remy von Matt, preisgekrönter Werber und Chef der Agentur Jung von Matt. Seine «Lebenszeituhr» zeigt dem Besitzer an, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Der Berechnung zugrunde liegt die statistische Lebenserwartung des Käufers zum Zeitpunkt des Erwerbs. Auf der Rückseite der Uhr steht geschrieben: «Eine ständige Erinnerung daran, das Beste aus seinem Leben zu machen.»
Die Frage ist nur, wie holt man «das Beste» aus seiner Existenz heraus? Meist stellen wir uns das Leben wie eine Treppe vor, auf der wir Stufe um Stufe höher steigen, bevor es treppab in Richtung Alter und Tod geht. Die Philosophin Margaret Urban Walker bezeichnet dieses Bild als «career life»: Die menschliche Existenz wird als Karriere verstanden, die ein sinnvolles Ganzes abgeben soll und irgendwann zum Stillstand kommt. Die Kürze des Lebens bedroht uns, weil wir fürchten, den anvisierten Bogen nicht zu schaffen.
Es wäre schon ein Gewinn, den Moment bewusst zu erleben und nicht für die Zukunft zu verwerten.
Vor lauter Stufen, die zu erklimmen wir uns beeilen, geht das Leben aber gern vergessen. Der pensionierte Musiklehrer Winfried Conradi alias «Toni Erdmann» fasst dies im gleichnamigen Film von Maren Ade treffend zusammen: «Das Problem ist, dass es halt oft nur ums Abhaken geht. Dann muss man das noch machen und dies, und währenddem geht das Leben einfach vorbei. Wie sollen wir denn Momente festhalten?»
Momente festzuhalten, ist tatsächlich schwierig. Aber vielleicht wäre es schon ein Gewinn, den Moment bewusst zu erleben und nicht für die Zukunft zu verwerten. Urban Walker nennt das in Abgrenzung zum «career life» das «seriatim life»: ein Leben, das Momente zu einer Serie vereint, ohne auf Auf- und Abstieg zu fokussieren. Der Blick aufs eigene Leben verliefe dann weniger horizontal entlang von Vergangenheit und Zukunft, von Plänen und Fristen. Wir lebten vielmehr vertikal: indem wir den einzelnen Moment vertiefen und in ihm aufgehen. Die tickenden Uhren verlieren dann an Brisanz, denn für Lebenszeitvertiefung ist ihr Massstab wertlos. Doch das vertikale Leben ist nicht möglich, wenn wir stets horizontal von Frist zu Frist eilen.
Mein kommendes Jahr soll stärker vertikal verlaufen: vertiefend statt vorauseilend. Deshalb gebe ich einen meiner Fixtermine ab und verabschiede mich mit dieser Kolumne von Ihnen. Es war mir eine Freude und Ehre, für Sie schreiben zu dürfen!
Korrektur: Die Zahl der Sekunden, die gemäss Statistik Barbara Bleisch noch bleiben, war in einer früheren Version des Textes zu tief angegeben. Danke dem Leser, der uns darauf aufmerksam gemacht hat.
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Kolumne Barbara Bleisch – Schon wieder ein Jahr vorbei!
Zum Jahresende fragen sich viele, wo die Zeit geblieben ist. Am ehesten entfliehen wir den tickenden Uhren, wenn wir uns mehr in den einzelnen Moment vertiefen.