«Schreiben ist nichts für Träumer»
Carlos Ruiz Zafón, der meistgelesene Spanier seit Cervantes, warnt vor Geniekult und populistischen Erlösungspredigern. Er glaubt an den Verstand und an harte Arbeit.

Der Jetlag hat ihn noch fest im Griff, aber Carlos Ruiz Zafón formuliert messerscharf, als er beim Kaffee über das Schreiben und die Welt spricht – unsere Welt, die er am Abgrund sieht. Der meistgelesene spanische Autor seit Cervantes (allein der Auftakt seiner Barcelona-Tetralogie, «Der Schatten des Windes», wurde 15 Millionen Mal verkauft) lebt seit 1993 hauptsächlich in Los Angeles. Fast wäre er Teil der «Legion der verlorenen Seelen der Stadt» geworden, sagt er. Doch gerade noch rechtzeitig schmiss er das Drehbuchschreiben hin, so wie er einst in Barcelona den Job des Werbetexters hingeschmissen hatte. Er stürzte sich in «sein Ding».
So wurde aus dem Enkel analphabetischer Fabrikarbeiter ein Autor, dessen Werke in über 40 Sprachen übersetzt sind. 2016 brachte Zafón den Plan, den er 15 Jahre zuvor gefasst hatte, zu Ende. Nun liegt das Finale, «Das Labyrinth der Lichter», auf Deutsch vor; verfasst hat Zafón es in der «Drachenhöhle», seinem Büro in L. A. Zum Gespräch erscheint er mit Drachenbrosche: Erstens sei er 1964, im chinesischen Jahr des Drachens, geboren, zweitens in der Drachenstadt Barcelona.
Ist Ihre Tetralogie ein Liebesbrief ans ferne Barcelona?
Auf keinen Fall! Mit ein paar Änderungen hätte ich die Romanhandlung auch nach Rom oder Helsinki verlegen können. Ich benutze Barcelona bloss; es bekommt seinen eigenen Charakter. Eine gewisse Distanz ist fürs Schreiben nötig: Hält man sich die eigene Hand dicht vor Augen, sieht man nur einen Klecks. Aus grösserer Entfernung sieht man sie genauer. Handkehrum braucht jedes gut gemachte Buch auch ein gutes Produktdesign: Die Kulisse muss stimmen und den Leser hineinziehen. Es wäre lächerlich, über Spanien in der Franco-Zeit zu schreiben und die Umstände aussen vor zu lassen. Oder über eine reale Stadt, ohne die Lokalitäten einzubeziehen.
Heute demonstrieren in Barcelona die einen für Flüchtlinge, andere für ein unabhängiges Katalonien – das laut Umfrage rund 45 Prozent befürworten. Die Jugend hat kaum Perspektiven, in Spanien liegt die Arbeitslosigkeit allgemein hoch.
Ich glaube an die zyklische Wiederkehr von Konstellationen. Als ich geboren wurde, herrschte noch Franco. Aber als ich 1993 ging, war die Demokratie ein Erfolgsmodell, das Land boomte. Und es sollte noch eine gute Dekade der Prosperität, Stabilität und Modernisierung folgen. Aber die Sollbruchlinien einer Gesellschaft verschwinden nicht einfach – so in Spanien etwa die katalonische Frage. Im Gegenteil, in Zeiten der Krise erweitern sich die feinen Risse wieder zu Abgründen: dann, wenn die Anästhesie des Wohlstands nachlässt und die Menschen in einer Realität erwachen, die sie nicht mögen. Da ist so viel Wut. Die Jugend muss sich bei uns teils ja tatsächlich zu einer verlorenen Generation zählen. Die Finanzkrise hat den Status quo infrage gestellt. Und geschwächte Machtstrukturen rufen die Menschen auf den Plan, die zu kurz kamen – und jene, die mit der Wut der anderen ihre eigenen Geschäfte machen. Da wird viel politische Energie freigesetzt, plötzlich scheinen Türen aufzugehen und Glasdecken zu zersplittern: Das kann sehr gefährlich sein. Siehe Brexit, siehe USA.
Wo sehen Sie Gefahren?
In Nordeuropa erstarken die Rechtspopulisten, im Süden eher die Linkspopulisten. Jedenfalls wird stets eine «Elite» zum Sündenbock gemacht, die kritische Presse verteufelt und der Mythos vom «wahren Volk» bespielt, typischerweise mit einer Retterfigur: einem Erdogan, einem Trump. Menschen sind darauf konditioniert, sich an irgendeinem Glauben festzuhalten – und an der Gruppe, die das Gleiche glaubt. Das ist der Mechanismus, der auch die USA in zwei völlig verschiedene Planeten geteilt hat; da gibt es keine Berührungspunkte. Jede Seite hält die andere für bekloppt. Ich verstehe ja den Zorn; die Menschen haben ein Recht darauf. Sie fühlen sich von den Umständen und dem Establishment betrogen. Aber wenn man wütet und grollt, trifft man sehr selten eine kluge Entscheidung. In den Dreissigern liess sich in Europa ein ähnliches Wüten beobachten; und ich fürchte, über die frühen Stadien einer faschistoiden Welt sind wir schon hinaus. Alles wird in einer Katastrophe enden.
In einer Katastrophe?
Es scheint uns, als seien wir auf der Höhe der Zivilisation und könnten nie mehr hinter bestimmte freiheitliche, demokratische Positionen zurückfallen. Weit gefehlt! Im Westen befinden sich Oligarchien im ständigen Kampf, sie streben auf, gehen unter; erstarken, werden korrupt, verrotten. Und plötzlich gilt: 2 plus 2 gleich 5. Presse gleich böse. Mauer gleich gut. Die Menschen lassen sich in ein tröstliches magisches Denken gleiten: Der Homo sapiens neigt zur Faktenallergie, darum droht uns die Hölle. Ich warne vor jedem Erlösungsprediger: Es gibt immer eine versteckte Agenda. Ich konnte es daher schon als Kind nicht ausstehen, wenn man mir eine Meinung aufdrängte. Wenn ich mich schon irre, sollen es wenigstens meine eigenen Fehler sein.
Bilden die vier Romane ein Mahnmal?In Madrid gabs unlängst eine grosse Debatte über die Umbenennung von Strassen, deren Namen noch an die Franco-Diktatur erinnern. Hat Spanien Mühe mit der Vergangenheitsbewältigung?
Da ist zwar viel zu tun – aber darum geht es mir als Romancier nicht. Ich bin kein Mahner, sondern ein Könner der Unterhaltung. Die europäische Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die Franco-Diktatur von den Dreissigern bis in die Sechziger fesselt mich zwar bis heute; ich würde meine Barcelona-Bücher aber nicht als historische oder politische Romane betrachten. Diese Zeit ist einfach eine gute Kulisse, wenn man vom Dunklen im Menschen und von seinem Ringen ums Gute erzählen will. Wenn man fragen will, was Identität und Erinnerung bedeuten und wieso ein Mensch sich auf bestimmte Weise entwickelt. Die Figur der Alicia in «Das Labyrinth» verkörpert einen solchen Weg; ich mag sie sehr. Am Anfang des Projekts stand allerdings das Bild vom Friedhof der vergessenen Bücher.
Was bedeutet dieses Bild für Sie?
Es steht für die heimliche – nein, gar nicht mal so heimliche – Hauptfigur meiner Tetralogie: die Literatur. Die Romane sind eine Hommage an alle Genres, die Magie der Fiktion, das Handwerk des Storytellings – und an die Leidenschaft der Leser, Schriftsteller und Verleger. Aus dem Bild des Friedhofs der vergessenen Bücher kam alles andere: die Charaktere, ihre Passionen, die Storys, die Tonarten. Die Idee vom «Labyrinth» fasst dies sozusagen architektonisch zusammen.
Wie meinen Sie das?
Im letzten Roman wie in den anderen flimmert ein Kaleidoskop von Geschichten. Es gibt verschiedene Eingänge in die Storys. Durch die vier Bücher sieht man die Geschehnisse aus stets wechselnden Perspektiven. Meine Herausforderung war, so zu erzählen, dass es egal ist, in welcher Reihenfolge der Leser beginnt. Dass alles ineinandergreift wie ein Uhrwerk; ich liebe Uhren. Wie verbindet man viele verschiedene Genres, vom Spionageroman bis zur Heldenfahrt? Und kann man eine Stadt zum eigenständigen Protagonisten machen? Das waren alles Aufgaben, die ich bewältigen wollte – musste! Als ich nämlich angefangen hatte, wurde die Sache zur Obsession, die ich auch ohne Leser bis zum Schluss verfolgt hätte. Ich konnte nicht aufhören. Dabei hatte ich für das Projekt ursprünglich maximal fünf Jahre veranschlagt. So ist das Leben: Du machst einen Plan, und im Off hörst du jemanden leise lachen.
Aber die Leser gingen mit.
Wie wunderbar ist das denn! Denken Sie: Als ich loslegte, war ich zutiefst frustriert und unglücklich, weil das mit den Drehbüchern nicht so lief, wie ich mir das naiverweise vorgestellt hatte. Zum Glück hatte ich schon drei fantasyorientierte Jugendbücher publiziert und einen Roman, den ich heute als «Transitionsbuch» ansehen würde: «Marina» aus dem Jahr 1999, ein Ding zwischen Jugend- und Erwachsenenliteratur, das mir arg am Herzen liegt. Im Rückblick waren das Experimentierstücke, Vorstudien für das grösste Experiment von allen – die vielleicht ein bisschen grössenwahnsinnige Tetralogie-Komposition.
Sie komponieren auch.
Überhaupt ist mir Musik das Liebste auf der Welt. Musik ist Mathematik, Logik, Präzision – und erreicht das Publikum als Emotion. Exakt wie ein Roman. Anschauliche Szenerien und Bühneneffekte zu schaffen, um die Figuren und ihre Passionen zu highlighten, gehört zum Handwerk des Autors. Dazu nutzt du hier den soften Streicherklang, da das Horn, dort den Schlagzeugtusch. Ein Roman verfügt über eine ganze Palette von Soundfärbungen, über Kontrapunkt, Dynamik, Harmonie, Motivwiederholung: Er ist eine Sinfonie, die aus Wörtern gebaut wurde, etwas Hochtechnisches. Wer beim Schreiben auf die Inspiration, auf die Musen wartet, sollte es gleich lassen. Geniekult ist Bullshit. Ich schreibe, streiche, schreibe um, baue neu – harte Arbeit und Können sind gefragt. Das ist nichts für Träumer.
Welche Autoren schätzen Sie?
Ich mag zum Beispiel moderne Autoren wie Joyce Carol Oates und John Le Carré. Le Carré ist, was das reine Handwerk angeht, schlicht der Beste in den letzten Jahrzehnten. Aber lassen Sie sich das nicht von mir sagen, lesen Sie, ziehen Sie Ihre eigenen Schlüsse! Wenn ich ein Credo habe, das ich jedem mitgeben will, dann dies: Das Leben ist kurz. Geniesse es – und habe Mut, dich dabei deines eigenen Verstandes zu bedienen!
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