Schwarze Ziegen, schwarze Brüder
Wer auf den Spuren der Vergangenheit durchs Verzascatal wandert, erfährt, was nachhaltiges Leben bedeutet.

Gegen Abend wird Tobias Bührer ungeduldig, weil er sich sorgt, ob seine 18 Ziegen wohlbehalten nach Odro zurückkehren. «Mal kommen sie eine Stunde später, mal eine früher», sagt der Alpwirt. Odro ist ein Maiensäss im Tessin auf 1240 Meter über Meer. Tagsüber turnen die Tiere frei auf den Steilhängen oberhalb von Vogorno im Verzascatal herum und fressen, was ihnen guttut – Kräuter, Blätter, Baumrinde, Pilze. Kohlrabenschwarz sind die Geissen der Rasse Nera Verzasca. Die Tiere geben würzige Milch und sind widerstandsfähig: Hitze und Kälte machen ihnen nichts aus.
Vor einem Jahr krempelte Bührer sein Leben um. Der Musiker aus Winterthur wurde Käser und begann, sich um Almonda, Seraina, Raphael und Tosca zu kümmern: «Zu jeder Ziege habe ich eine persönliche Beziehung», sagt der 46 Jahre alte Wirt der Azienda Montana Odro. «Jeden Tag produzieren wir den Frischkäse Büscion und die halbharten Mütschli», erklärt er. Auch Gemüse aus dem eigenen Garten und Ziegenmilch-Schoggicreme serviert er. Wer Bührers Bioprodukte probieren will, muss sich das «erarbeiten». Odro ist nur zu Fuss erreichbar, über einen Wanderweg, der von Vogorno steil nach oben führt. Man blickt auf den Lago Maggiore und den künstlichen See mit der berühmten Staumauer.
Wie sich Touristen auf ethnografischen Rundgängen in das Leben früherer Generationen hineinversetzen können, das hat in diesem Tal Vorbildcharakter. Odro ist in einen Lehrpfad eingebettet, der das Wildheuen thematisiert. Tagelang schnitten Frauen wie Männer im Sommer mit der Sichel an den schroffen Flanken des 2442 Meter hohen Pizzo di Vogorno Gras. Die Ballen beförderten sie an Heuseilen abwärts. Eine gefährliche Arbeit, die bis in die Fünfzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts ausgeübt wurde – viele Hirten stürzten ab, manchmal auch eines ihrer Kinder, die sie mit nach oben nahmen.
Begegnet man heutzutage im Verzascatal Familien, so sind es meist Touristen, die auf dem Sentierone unterwegs sind, dem breiten Wanderweg, der einem alten Saumpfad folgend durch das gesamte Tal führt. Pozzi, natürliche Badebecken in der Verzasca, gibt es entlang des Wegs in Hülle und Fülle. Man sollte aber auf Stromschnellen achten, bevor man ins türkisfarbene Wasser springt.
Alte Gerätschaften kann man selber ausprobieren
Je höher man kommt, desto mehr weitet sich das enge Tal und gibt den Blick frei auf Gipfel und nahezu senkrechte, bewachsene Hänge. Nach dem Wildheu-Mähen schliefen die Einheimischen in Sprügh. So nannten sie im Tessiner Dialekt die Höhlen, die durch herabgestürzte Felsbrocken entstanden waren. Solche Sprügh kann man auf dem ethnografischen Rundgang durch das Tal besichtigen.
Sonogno, das Dorf zuhinderst im Tal, liegt auf 920 Meter über Meer. Hier gibt es das höchst interessante Heimatmuseum Casa Genardini. Es ist eine feine, kleine Erlebniswelt, die den Alltag der Vergangenheit beschreibt. Mit interaktiven Angeboten und der Möglichkeit, alte Gerätschaften wie etwa die Maroni-Röstpfanne selbst auszuprobieren. «Wir können von unseren Vorfahren lernen, was nachhaltiges Leben bedeutet», sagt der 48 Jahre alte Leiter des Museums, Lorenzo Sonognini, und zeigt auf das ausgestellte Horn einer Nera-Verzasca-Ziege. Man nutzte nicht nur das Fleisch oder Fell der Tiere. Ihre Hörner dienten Hirten als Instrument, um Botschaften zu übermitteln.
Ein Teil der ständigen Ausstellung widmet sich dem Schicksal der Kaminfegerbuben. Bitterarme Eltern schickten ihre Söhne einst in fremde Länder, wo sie unter elenden Lebensbedingungen die Schornsteine der Reichen reinigten. Berühmt wurden sie dank Lisa Tetzners Jugendbuchklassiker «Die schwarzen Brüder». «Wir wollen die Erinnerung an die Spazzacamini wachhalten. Aber nur der Blick zurück ist für ein lebendiges Museum zu wenig», betont Sonognini, «deshalb organisieren wir ethnografische Veranstaltungen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden.» Wie das Projekt «Senti questa – Hör mal!» Dafür tauschten sich junge und ältere Einwohner zu Themen wie «Postauto», «Osteria» oder «Schule» aus.
Die Gespräche mit seinen Gästen fehlen Tobias Bührer im Winter: «Auf der Alp bestehen die Tage nur aus Holzhacken und Schneeschaufeln.» Aber das Zusammensein mit den Ziegen entschädige ihn für vieles. «Unglaublich, wie sie es schaffen, die Zicklein allein auf die Welt zu bringen», sagt Bührer, «mir kommen bei jeder Geburt die Tränen.»
Azienda Montana Odro: www.odro.ch; allgemeine Infos: www.ascona-locarno.com
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch