Sprechen Kindergärtler schlecht Deutsch, sollen Eltern zahlen
Weil Sprachprobleme im Kindergarten verbreitet sind, wagt der Kanton Thurgau den Tabubruch – Schule soll nicht mehr in jedem Fall kostenlos sein.

«Wir Thurgauer sind eben widerspenstig», sagt Urs Schrepfer und lacht. Der Satz fällt zum Schluss eines langen Gesprächs, doch eigentlich findet der Schulleiter und SVP-Kantonsparlamentarier die Diskussion gar nicht lustig. Im Gegenteil: Wie viele seiner Grossratskollegen fühlt er sich missverstanden.
Schrepfer gehörte 2015 zu den treibenden Kräften hinter einer Änderung des Thurgauer Volksschulgesetzes. Damals beschloss das Parlament, dass Eltern den Deutschunterricht mitfinanzieren müssen, wenn ihre in der Schweiz geborenen Kinder beim Kindergarteneintritt die Landessprache noch nicht sprechen.
Man spricht von einem «Kollateralschaden»
Der Entscheid sorgte für Wirbel im Ostschweizer Kanton: Vier Privatpersonen reichten Klage ein – und das Bundesgericht gab ihnen 2017 mit Verweis auf Artikel 19 der Bundesverfassung recht. Demnach muss der Volksschulunterricht unentgeltlich sein. Das Leiturteil hatte weitreichende Folgen: Bis dahin hatten Schulgemeinden in der ganzen Schweiz Elternbeiträge für Klassenlager oder Exkursionen verlangt. Diese Praxis wurde per sofort untersagt. Höchstens 16 Franken pro Tag – den Betrag, den die Eltern wegen der Auswärtsverpflegung ihrer Kinder sparen – dürfen solche Programme seither noch kosten.
Im Thurgau spricht man parteiübergreifend von einem «Kollateralschaden». Plötzlich sah die ganze Schweiz die Schullager gefährdet – ein unbeabsichtigtes neues Problem. Nur die Kosten der sprachlichen Integration, das eigentliche Anliegen breiter politischer Kreise im Kanton, waren kein Thema mehr.
Zahlreiche Kinder betroffen
Das soll sich jetzt ändern. Und wie vor fünf Jahren, als die Thurgauer mit ihrem – mittlerweile revidierten – Entscheid zur Abschaffung des Frühfranzösisch einen Sprachenstreit auslösten, soll die Frage nun auf nationaler Ebene geklärt werden. Das Kantonsparlament hat im Januar mit grosser Mehrheit eine Motion verabschiedet, die den Regierungsrat mit einer Standesinitiative beauftragt. Das Ziel: Die Bundesverfassung soll relativiert werden. Eltern, die sich vor Schuleintritt zu wenig um die Integration ihrer Kinder kümmern, sollen für den Deutschunterricht oder für Dolmetscher bei Elterngesprächen bezahlen müssen.
Zahlen aus der Kantonshauptstadt Frauenfeld zeigen, wie verbreitet die Sprachprobleme der Kinder sind. Dort mussten im Jahr 2014 von den 480 Kindergärtlern 166 (35 Prozent) zum Deutschunterricht. Davon hatten 70 Kinder (42 Prozent) einen Schweizer Pass, wie Schulpräsident und SVP-Kantonsrat Andreas Wirth sagt. In Urs Schrepfers 7800-Einwohner-Gemeinde Sirnach waren es 2015 gar 75 Prozent der Deutschschüler, die in der Schweiz geboren waren oder deren Eltern schon länger als zehn Jahre hier lebten. «Von solchen Familien darf man erwarten, dass ihre Kinder Deutsch sprechen», sagt Schrepfer.
Schule muss unentgeltlich sein.
Die Drohung, für den Deutschunterricht im Kindergarten bezahlen zu müssen, würde Wirkung zeigen, ist er überzeugt. In Sirnach hätten doppelt so viele Kinder die vorschulische Sprachspielgruppe besucht, als er den Eltern eine Kostenbeteiligung im Kindergarten androhte. Ihm gehe es weder um die Kosten von jährlich 180'000 Franken für den Deutschunterricht noch um eine generelle Abstrafung der Ausländer, betont Schrepfer. «Flüchtlinge und erst kürzlich Zugewanderte wären ausgenommen.» Vielmehr wolle er vermeidbare Sprachdefizite der Kinder beheben, die sich häufig auf die ganze Schulkarriere auswirkten.
Auch die beiden Motionäre Hanspeter Heeb (GLP) und Kilian Imhof (CVP) betonen den «psychologischen Effekt». «Die Massnahme ist ein Hebel, um die Integration zu fördern», sagt Schulleiter Imhof. Und Schulpräsident Heeb spricht von einem «Fehlanreiz, dass die Schule gratis Sprachförderung anbietet, die zuvor hätte stattfinden müssen.» Die Forderung ist denn auch parteipolitisch breit gestützt. Nur SP und Grüne lehnten sie ab; in der FDP gab es teilweise Widerstand.
Skeptisch ist auch Lehrerverbandspräsident Beat W. Zemp. Mangelnde Sprachkenntnisse seien zwar verbreitet, und es sei ein folgenreiches Versäumnis, die Unterrichtssprache vor dem Schuleintritt nicht zu lernen. Aber: «Die Standesinitiative verstösst gleich zweifach gegen die Verfassung: Schule muss unentgeltlich sein. Und niemand darf wegen seiner Sprache diskriminiert werden.» Das Recht auf Bildung müsse für alle Kinder unteilbar bleiben – unabhängig vom sozioökonomischen Status der Eltern. Zudem hält Zemp einen solchen Passus in der Verfassung für willkürlich. «Wir regeln ja dort auch nicht, mit welchen motorischen Kompetenzen ein Kind in die Schule kommen soll.»
Basel-Stadt als Vorbild
Über Deutschdefizite klagen auch Schulgemeinden anderer Regionen. Auf Kantonsebene gebe es jedoch keine aggregierten Daten, wie häufig Kinder aus schon lange in der Schweiz lebenden Familien betroffen sind, heisst es bei der Erziehungsdirektorenkonferenz. Zudem kennen die Kantone unterschiedliche Regelungen für solche Fälle.
Als Pionierkanton gilt Basel-Stadt: Dort besteht seit 2013 ein selektives Obligatorium für «Deutsch vor dem Kindergarten». Die Eltern erhalten ein Jahr vor der Kindergartenanmeldung einen Fragebogen, der den Förderbedarf eruiert. Ist der Besuch einer vorschulischen Sprachspielgruppe erforderlich, sind die Eltern gesetzlich verpflichtet, ihr Kind an zwei Halbtagen pro Woche dorthin zu schicken. Der Kanton übernimmt die Kosten. Sehen die Eltern davon ab, drohen Bussen bis 1000 Franken.
Eine gesetzliche Verpflichtung zum vorschulischen Sprachunterricht kennt auch Luzern seit drei Jahren, wie Charles Vincent von der Dienststelle Volksschulbildung sagt. Zürich hingegen will kein selektives Obligatorium. Das hat die Bildungskommission des Kantonsrats Ende Januar entschieden: Weil viel mehr Kinder betroffen wären als in Basel-Stadt, wären die Kosten zu hoch. Auch für Bern, wo der Kanton die frühe Sprachförderung finanziell unterstützt, ist das gemäss Erziehungsdirektion keine Option. Im Thurgau hingegen prüfen die führenden Bildungspolitiker dies nun parallel zur angestrebten Verfassungsänderung. «Ich werde diese wirksame Massnahme politisch sicher weiterverfolgen», sagt Andreas Wirth.
Erstellt: 12.02.2019, 06:40 Uhr
Was man im Bundeshaus von der Forderung hält
Das Anliegen der Thurgauer sorgt in Bundesbern für eine Kontroverse. Anders als im Ostschweizer Kanton verlaufen die Fronten entlang der Parteipolitik. Bildungspolitiker der SVP unterstützen eine finanzielle Beteiligung fremdsprachiger Eltern am Deutschunterricht der Kindergartenkinder, wenn diese die vorschulische Förderung verpasst haben. «Wenn Eltern mutwillig Integrationsleistungen verweigern, kann ich mir das vorstellen», sagt Nationalrat Felix Müri (LU). Auch Peter Keller (NW) hält «gezielte Ausnahmen» von der Unentgeltlichkeit der Schule in solchen Fällen für richtig. Dezidiert dagegen stellt sich die Linke. «Es ist absurd, Eltern mit Drohungen zur Zusammenarbeit zu zwingen», sagt etwa SP-Nationalrätin Martina Munz (SH). Sie plädiert stattdessen für ein Anreizsystem mit teilweise kostenfreien Kita-Plätzen.
Auch in den Mitte-Parteien überwiegt die Skepsis: Die Volksschule fördere die Chancengleichheit nur, wenn sie für alle unentgeltlich bleibe, sagt BDP-Nationalrätin Rosmarie Quadranti (ZH). «Populistische Strafaktionen gegen Migranteneltern sind nicht zielführend.»
In der CVP hält man das Anliegen für berechtigt, aber eine Verfassungsänderung für den falschen Weg. Nationalrätin Andrea Gmür plädiert dafür, dass die Kantone die verpflichtende Sprachförderung in ihren Volksschulgesetzen regeln – wie ihr Kanton Luzern, der einen Passus für den Besuch von Sprachspielgruppen geschaffen hat.
An solchen kantonalen Massnahmen soll sich nun der Bund finanziell beteiligen. Das fordert der Basler LDP-Nationalrat Christoph Eymann, der als damaliger Erziehungsdirektor das selektive Obligatorium für die vorschulische Deutschförderung initiiert hatte. «Fehlende Sprachkenntnisse verfolgen junge Menschen in der gesamten Laufbahn. Deshalb müssen wir handeln», sagt er.
Der Bundesrat unterstützt die Motion. Doch just eine Thurgauerin bekämpft sie: SVP-Nationalrätin Verena Herzog. «Es ist verständlich, dass Herr Eymann für Basel auf das Giesskannenprinzip des Bundes hofft. Das ist aber nicht sachdienlich», sagt sie. Eine Verfassungsänderung hingegen verhindere, dass die Angebote der Frühförderung «bewusst missachtet werden». (rbi)
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