Sechs Jahrzehnte gute Musik
Die Popmusik wird gar nicht schlechter, wie viele glauben. Das sagt ein Forschungsteam der Londoner Queen-Mary-Universität. Wir sagen, was gut war. Und was weniger.

60er-Jahre Als die Musik explodierte

Wie stark das Aufbruchjahrzehnt nachwirkt, zeigt die Zahl der Überlebenden, die bis heute in vollen Hallen auftreten. In den Sechzigern explodierte die Musik, sie wurde lauter, freier und gewagter. James Brown radikalisierte den Soul zum Funk, die Beatles kombinierten den Pop mit Techniken der Avantgarde, Bob Dylan setzte die Sprache in Brand und Jimi Hendrix seine Gitarre. Frank Zappa benutzte das Aufnahmestudio als Hauptinstrument: Musik als Montage.
Stilistisch, politisch und atmosphärisch verdüsterten sich das Jahrzehnt und die Musik. Naivität verfinsterte sich zum Protest, dieser erschöpfte sich dann in der Selbstgefälligkeit. Die Drogen wurden härter, ihr Einfluss grösser, zuerst wirkten sie als Inspiration, dann machten sie die Musiker kaputt. Viele Junge starben oder kamen sich abhanden, während die Vereinigten Staaten in der Gewalt ihrer Attentate versanken und in Vietnam erst die Glaubwürdigkeit und später den Krieg verloren.
Kein Jahrzehnt hat so viele brillante Musiker und Bands hervorgebracht, so viele Stile nebeneinander sich entwickeln lassen. Die Sechziger begannen naiv und endeten als Millionengeschäft: Woodstock, für viele der Platzhalter der Gegenkultur, schrammte knapp an der Katastrophe vorbei; erst im Film, der alles Schlechte wegzensierte, geriet es zum Fest. Wer sich an die Sechziger erinnerte, sagte der Komiker Robin Williams, sei nicht dabei gewesen. Die Musik ist geblieben. (jmb)
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70er-Jahre Agent im eigenen Leben

Sie hiess Sonja, war die einzige Punkerin der Klasse, und sie gab mir eine Kassette, die als Aufschrift nichts trug als einen Totenkopf. «Hör dirs mal an!», sagte sie. Ich war 17, trug Batikpullover und hatte noch nie freiwillig Musik gehört. Kein Wunder, trafen mich die ersten Akkorde wie die Stimme Gottes: «I am an anarchist», sangen die Sex Pistols. «London Calling» von Clash, «Eisbär» von Grauzone (zwar erst 1980 erschienen, aber im Geist der 70er aufgenommen).
Es war das, was ich gesucht hatte, ohne zu wissen, dass es existierte: der Kreuzzug gegen alles. Ich ging weiter zur Schule, trug idiotische Pullover, aber ich wusste nun, wem mein Herz gehörte: der Nacht, der Revolte.
Ich war nicht mehr ein Junge, ich war ein Schläfer. Eines Tages würde ich die Tarnung ablegen und etwas tun: die Schule abbrennen oder das Stadthaus. Und da ich von mir auf andere schloss, stieg meine Achtung vor allen Menschen. Rein äusserlich waren sie Idioten, aber wahrscheinlich barg auch ihr Herz ein Geheimnis. Plötzlich schien eine Zukunft wieder möglich.
Denn nur wer ein Geheimnis hat, kann erlöst werden, und sei es auch durch eine Stange Dynamit. Nie wieder war mein Herz so voller Hoffnung. Erst später las ich, dass die ersten Punks aus der Modewelt kamen: Sie machten sich lustig über die Trottel, die sich Sicherheitsnadeln wirklich durchs Ohr stachen, statt Attrappen zu nehmen. Aber es ist das Wunder aller Kunst, dass Kalkül in Reinheit umschlägt. (cit)
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80er-Jahre Plötzlich in Mode: Attitüde

In den Achtzigerjahren war vieles schräg – nicht nur Mode und Frisuren. Denn damals geriet einiges durcheinander. Es kamen die Computer, und es war eine Revolution. Es kam Hip-Hop, und es war eine Revolution. Und MTV war sowieso eine Revolution, die wie meistens irgendwann ihre Kinder frass. Aber das kam erst später. Erst kam eines der musikalisch aufregendsten und innovativsten Jahrzehnte.
Nicht, dass in den Achtzigern alles super gewesen wäre. Vielleicht gab es nie so schlechte Musik wie damals. Aber es war egal, oder vielleicht musste es sogar so sein. Dank MTV hatte nämlich etwas Einzug gehalten, was Pop und Hip-Hop und alle anderen Genres mit Ausnahme von Techno fortan prägen sollte: Attitüde. Und das nicht zu knapp.
Man könnte natürlich einwenden, all das habe die Musik nicht weitergebracht. Tatsächlich aber könnte man die ganze Zeitung füllen mit den Namen innovativer Bands der Achtzigerjahre von Depeche Mode bis zu The Cure. Nicht zu vergessen die Superstars wie Prince oder Michael Jackson. Und ganz abgesehen davon, gab es auch bahnbrechende musikalische Neuerungen, Sampling, Auflösung der Songstrukturen, erfunden von Menschen, die mit Computern herumspielten, daraus Musik machten und mit einer Prise Attitüde würzten. Von heute zurückschauend, erscheinen die letzten drei Jahrzehnte als Ausführung von Konzepten der Achtziger. Schräg, aber immer noch spannend. (mcb)
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90er-Jahre Zu viel des Neuen

Es war ein musikalischer Urknall. In den 90er-Jahren zerbarst die Popmusik in unzählige Stile, die sich langsam zu neuen Musikuniversen verfestigten. Der Rave trancte ab, Hip-Hop teilte sich in West und East Coast, Nirvana verlangsamten Punk zum Grunge, Rage Against the Machine versöhnten Rap mit Rock, Massive Attack sedierten Hip- zum Trip-Hop, Londoner DJs beschleunigten Breakbeats zum Jungle, Computerfreaks zerlegten Technostücke, bis sie nach Avantgarde klangen. Fast jeden Monat gab es Dinge zu hören, die man so noch nie hatte hören können. Eine akustische Erleuchtung folgte der nächsten. Immer wenn man meinte, das sei es jetzt gewesen, fand eine Band den nächsten Dreh.
Auf Teenager wirkte dieser Wettlauf der Innovation aufputschend und ermüdend zugleich. Weil jede Musikrichtung eigene Kleider und einen eigenen Lebensstil einforderte, führten die steten akustischen Neuentdeckungen zu ständigen Identitätskrisen. War man jetzt Hardcore, B-Boy oder Rave? Durften Grunge-Fans weite Hosen tragen und Ecstasy schlucken? Konnte ein Smashing-Pumpkins-Anhänger zu Drum 'n' Bass tanzen? Solche Abgrenzungsdebatten beanspruchten viel Platz in den 90er-Jahre-Teenagerleben.
Dieser Mikro-Separatismus langweilte und liess sich nicht lange halten. Deshalb konnten sich folgende Musikergenerationen vor allem damit beschäftigen, die zahlreichen 90er-Universen neu zu vermischen. (bat)
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00er-Jahre Das Ende des Mainstreams

Die Nuller waren herrlich – für alle Freunde der Popmusik. Da es für annehmbare Aufnahmen kein teures Tonstudio mehr brauchte, sondern nur noch einen Heimcomputer, explodierte die Zahl der Veröffentlichungen. Und weil das Internet plötzlich Enthusiasten fast aller Länder vernetzte, fand auch der verschrobenste Sound seine Hörer.
Mit den Nullern begann neue Vielfalt. Russischer Ska-Punk mit absurd obszönen Texten (Leningrad, «Dachniki», 2000), irischer Instrumentalrock mit Piano und Blechbläsern (The Jimmy Cake, «Dublin Gone, Everybody Dead», 2002), Blues aus der tuwinischen Tundra (Yat-Kha, «Aldyn Dashka», 2000), Ambient-Black-Metal aus dem Kanton Bern (Darkspace, «I», 2003): Wer da noch das stumpfe Hitradio anmachte, war selber schuld.
Bemerkenswert war die Lust an nicht englischen Songtexten. Ob Hip-Hop bei den Sami (Amoc, «Amok-Kaččam», 2007) oder Reggae in Adliswil (Phenomden, «Fang ah», 2005): Plötzlich ging alles in jeder Sprache.
Wer partout keine Experimente wagen wollte, hielt sich an jene Altstars, die in den Nullern ihre wohl besten Platten ablieferten: David Bowie mit «Heathen» (2002), Leonard Cohen mit «Ten New Songs» (2001), Udo Lindenberg mit «Stark wie zwei» (2008).
Irgendwo gab es auch noch Chart-Musik. Eminem und Marilyn Manson, Tokio Hotel und Britney Spears. Aber ehrlich, wer braucht das, wenn er finnische Grunz-Polka haben kann (Finntroll, «Jakten's Tid», 2001)? (dhe)
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10er-Jahre Begeisterung beginnt jetzt

Jede gute Popmusik kommt aus der Gegenwart und handelt von der Gegenwart. Ihre aufregendsten Momente hat sie dann, wenn sich eine Textzeile oder irgendein irrer Sound mit einem Lebensgefühl kurzschliesst, das mitten unter uns ist. Und es soll niemand sagen, es gebe heute keine so gute Popmusik mehr wie in den Sechziger- oder Siebzigerjahren, ihrer grossen Ära. Der einzige Unterschied ist, dass die beste Popmusik damals auch die populärste war. Heute muss man weit ausserhalb der Hitparade nach ihr suchen, was dank des Internets aber nicht besonders schwierig ist.
Nichts gegen den Kanon, aber ich würde ihn jederzeit opfern für die besten aktuellen Platten. Ohne zu zögern, gäbe ich meine Beatles-Sammlung her, wenn ich mich zwischen ihr und den zwei letzten Platten von Grizzly Bear entscheiden müsste. «What's Going On» von Marvin Gaye war 1971 grossartig und wichtig, aber «Channel Orange» von Frank Ocean ist heute grossartig und wichtig. Wer etwas über enttäuschte Hoffnungen und Selbsthass im schwarzen Amerika von Barack Obama erfahren will, kann jetzt «To Pimp a Butterfly» hören, das aktuelle Hip-Hop-Meisterwerk von Kendrick Lamar. Und wer wissen will, wie sich eine Facebook-Existenz anfühlt, dem ist mit FKA Twigs und ihrer «LP 1» mehr geholfen als mit Joni Mitchell. Ehret die Pioniere und die Legenden. Aber jede Popbegeisterung beginnt in der Gegenwart. (cf)
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