Sechs Tage, die die Schweiz erschütterten
Liliana Heimberg setzt in Olten den Landesstreik von 1918 in Szene. Über hundert Spielerinnen und Spieler machen mit der Basler Camerata das Stück «1918.ch» zum grossen Volkstheater.

Der Titel des Stücks steht für ein Jahr und ein Land. Zu sehen ist aber Weltgeschichte, und die findet sechs Minuten zu Fuss vom Bahnhof Olten statt. In der Alten Hauptwerkstätte der SBB wird «1918.ch» gegeben, die grosse Schau zum Schweizer Landesstreik. Sie zeigt, was in den Novembertagen 1918 geschah, als mehr als 250'000 Arbeiterinnen und Arbeiter in den Ausstand traten.
Der Abend beginnt aber in Feldgrün. Auf den Dächern stehen Soldaten mit Feldstechern und halten Mauerschau. Der Krieg ist aus, und wir hören im Telegrammstil, was draussen in der Welt passiert. Der Kaiser in Deutschland: weg. Der Kaiser von Österreich: weg. Überall Republiken, wo vorher eine Monarchie war. Und alle fürchten sich vor dem Bolschewismus. Auch die Schweiz wird von der Umordnung der Verhältnisse erfasst. Da kann das Volk, das im Innenhof steht, noch so singen: «Wir blieben verschont, wir blieben frei» – das Ende des Krieges bedeutet einen neuen Anfang, aber niemand weiss, was jetzt kommt.
Kippmoment der Geschichte
Einen Teil des Volkes sehen wir im Tenü blau. Kostümdesignerin Eva Butzkies hat für das Landesstreik-Stück Arbeitskleider der Schweizer Armee, mit denen sonst Putzdienst gemacht wird, aufgepeppt. An den Ärmeln der Jacken gibt es mehr Knöpfe, als es eigentlich bräuchte, und das gilt auch für die Hosen. Die Frauenröcke sind aus umgekehrtem neuem Jeansstoff genäht. Das sieht gut aus – und gehört zur Methode, wie Regisseurin Liliana Heimberg mit dem Stoff der Geschichte umgeht. Sie zeigt die Seite, die man sonst nicht sieht. Man nennt sie: die linke Seite. Oder auch: die nicht schöne.
Nun ist ja der Landesstreik nicht unbedingt der beste Stoff für das Theater: ein Streik, der nach ein paar Tagen mit einem bedingungslosen Abbruch seitens der Streikleitung endet. Liliana Heimberg hat schon das Festspiel zum 500-Jahr-Jubiläum des Beitritts der beiden Kantone Appenzell inszeniert und zum Thema Freilichttheater geforscht. Auch ihr Theaterprojekt «1918.ch» steht in dieser Tradition, es bietet Zugang zu einem Kapitel Schweizer Geschichte für ein grosses Publikum. Die Alte Hauptwerkstätte ist in dieser Hinsicht ein idealer Ort für diese Produktion, der lichte Raum bietet Zugänge von allen Seiten. Da können die über hundert Spielerinnen und Spieler des Laien-Ensembles richtig hineinstürmen. Demonstrieren und die rote Fahne schwenken. Sich zurückziehen. Und: richtig gutes Theater über den Landesstreik machen. Auch wenn es für beide Seiten manchmal etwas unschön wird.
Denn verbrämt wird hier nichts, was war. Beim Landesstreik geht es um einen Kippmoment der Schweizer Geschichte, die Ereignisse im November 1918 brachten das Land an den Rand des Bürgerkriegs. Die Armee, die gerade noch an der Grenze stand, wurde gegen die Streikenden aufgeboten, und ihr Auftritt war martialisch: «Unsere Truppen sind mit Handgranaten ausgerüstet. Sie haben Befehl, sie zu gebrauchen, wenn aus Fenstern und Kellerlöchern geschossen wird», schmettert Oberstdivisionär Sonderegger den Zürchern entgegen.
Scharfe Töne sind auch sonst in der Inszenierung zu hören. Im Chor wird dann auf der einen Seite gesungen: «Heraus die bürgerlichen Brüder», es sind die Stimmen der Bürgerwehr. Die Streikenden halten mit dem Sozialistenmarsch dagegen: «Es gilt die Arbeit zu befreien.» Wer so schreit, kann nicht verstehen, was der andere will, da geraten sich Männer oft in die Haare. Neben den lauten und kämpferischen Auftritten sind auch andere Stimmen zu hören. Es sind die Frauen, die wirklich etwas zu sagen haben. Und auch etwas machen.
Im März 1918 stürmten Frauen die Milchzentrale von Bellinzona. Jedes Land hat die Revolution, die es verdient, und das zeigt auch das Stück exemplarisch. Bei diesem Landesstreik geht es nicht um die Utopie einer besseren Gesellschaft. Es geht um ein besseres Leben für die kleinen Leute. Und da spielen auch Milch, Haferbrei und Kartoffeln eine Rolle.
Frauen stehen gemeinsam für ein Anliegen ein
Denn billige Kartoffeln braucht das Volk. Das wusste Rosa Bloch, die einzige Frau im Oltner Aktionskomitee, das den Streik organisierte. Sie sprach nicht nur an Versammlungen, sondern handelte auch und wehrte sich gegen die überhöhten Preise von Lebensmitteln. Rosa Bloch ist mit ihren Aktionen in diesem Stück nicht allein. Neben ihr sind: Else Züblin-Spiller, die Soldatenstuben betrieb, oder Marie Härri, eine Zürcher Aktivistin. Diese Frauen bewegen etwas in ihrem Tun. Während sich die SP-Männer, von Herman Greulich bis zu Robert Grimm, mit ihren bürgerlichen Kontrahenten nur einen Schlagabtausch à la SRF-Arena liefern.
Schön ist auch, dass Frauen, deren Namen keiner mehr kennt, ihren Auftritt haben. Da ist Rosy Schöni, die mit achtzehneinhalb Jahren an Grippe starb. Oder Anna Vogt, die den Bundesrat um Hilfe bat für ihren Mann, der bei einer Demonstration in Grenchen angeschossen wurde. Alle diese Frauen stehen gemeinsam für ein Anliegen ein. Die Inszenierung bringt diesen Kampf ins Bild. Zusammen stossen die Frauen einen Eisenbahnwaggon, der für das Frauenstimmrecht steht, ins Ziel, auch wenn das ein langer Prozess ist. Die Männer haben andere Vehikel. Die hohen Militärs fahren Cabrio, der Streikende aus dem Tessin Velo. Der Rest geht zu Fuss. Aber auch so kommen die Männer oft schneller voran im Abhaken ihres Forderungkatalogs.
Helvetia in roten Hosen
Die Musik von Jean-François Morel, gespielt von der herausragenden Basler Sinfonietta, gibt der Inszenierung ihre Farbe. Sie unterstützt jede Bewegung im Stück und bringt auch die Spielerinnen und Spieler zum Tanzen. Das Publikum wird ebenfalls bewegt in diesem Bilderbogen von Geschichten über den Landesstreik. Und manchmal singt im Orchester auch die Figur der Helvetia mit, sie trägt rote Hosen. Sehr revolutionär.
Nach zwei Stunden kommt jede Bewegung zum Stillstand, erzählt ist dann alles, was erzählt werden muss, vom Tag des Waffenstillstands, der auch Beginn für den Landesstreik war, bis zu seinem Ende. Dann stehen die Spielerinnen und Spieler auf einer Linie. Manche gehen ihren Weg weiter durch die Institutionen wie Streikführer Robert Grimm, der Direktor der Lötschbergbahn wurde. Andere ziehen jetzt die Schuhe aus, als wollten sie zeigen, dass hier das Ende ihrer Geschichte ist – ein bedingungsloser Abbruch, wie schon vor hundert Jahren.
1918.ch. Alte Hauptwerkstätte Olten, bis 23.9.
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