Was für die Schweiz gilt, zählt für Zürich im Quadrat: Es ist ein von der Geschichte verhätschelter Ort, verschont von allen grossen Übeln, nie erobert, nie bombardiert, nie abgebrannt; eine im europaweiten Vergleich fast unvorstellbar friedliche und reiche Stadt. Selbst Aufstände und Revolutionen liefen in Zürich fast gesittet ab.
Diese ewige Ruhe hat eine Kehrseite: das Sehnen nach der Katastrophe.
Symptome davon sind am Donnerstagnachmittag aufgetreten, als die Stadtpolizei vor «hohen Wellen» in der Sihl warnte und mit Megafonen die Ufer räumte. Sofort sammelten sich Schaulustige auf den Brücken, in den Newsrooms der Medien herrschte Aufregung von beinahe 9/11-Heftigkeit. Endlich bekam man wahre Gefahr zu spüren, endlich rutschte Zürich in Richtung Ausnahmezustand.
«Sihl-Welle 2018: I has überläbt...», spottete ein User auf einem Meme.
Wer an den Sihl-Tsunami glaubte, freute sich nicht lange. Die «hohen Wellen» schrumpften in Wirklichkeit zum trübbraunen Miniatur-Hochwasser, als ob es in Einsiedeln ein durchschnittliches Gewitter heruntergeregnet hätte.
Trotz dieser Enttäuschung sind die Zürcherinnen und Zürcher froh um die Sihl. Sie bleibt die einzige Verbündete in ihrer Sehnsucht nach Action. Dank des 40 Kilometer entfernten Sihlstaudamms wächst das so friedlich wirkende Flüsslein zur tödlichen Bedrohung an. Würde dieser Damm «vollständig und sofortig zerstört» – so steht es im Merkblatt des Zivilschutzes –, rollten eineinhalb Stunden später acht Meter hohe Wellen durch Zürich. Eine Drei-Stockwerke-Flut. Das wäre was.
Bildstrecke: Warten auf die Flutwelle
Diese Perspektive auf Zerstörung gibt der dauerverschonten Stadt einen Adrenalinkick. Nur so lässt sich das fast manische Heraufbeschwören der Sihl-Bedrohung erklären, das in Zürich betrieben wird. Dabei ist ein vollständiger Staudammbruch kaum wahrscheinlicher als der Einschlag eines Meteoriten. Ausserdem erreicht der Sihlsee unter den Schweizer Stauseen nur knapp mittlere Grösse.
So funktioniert die Sihl wie Outdoorkleider, die man in der Stadt trägt: als Hilfsmittel, um sich ein bisschen wild vorzukommen. Der höchste Kitzel, den das reale Zürich dieses Wochenende bietet, ist ein anderer: strombetriebene Seifenkisten in einem Wohnquartier.
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Sehnsucht nach dem Notstand
Zürich braucht die Sihl, um sich lebendig zu fühlen.