«Seine ganze Politik ist auf Lügen aufgebaut»
Die ungarische Philosophin Agnes Heller sagt, unter Viktor Orban sei das Land eine Diktatur geworden. Doch viele hätten jetzt genug von ihm.
Die ungarische Philosophin Agnes Heller sagt, unter Viktor Orban sei das Land eine Diktatur geworden. Doch viele hätten jetzt genug von ihm.
Sie gelten als scharfe Kritikerin von Premierminister Orban. Was hat er in den letzten acht Jahren aus Ungarn gemacht?
Einen Scheiterhaufen hat er aus Ungarn gemacht. Er hat das Land ganz und gar zugrunde gerichtet.
Wirtschaftlich oder politisch?
Beides. Politisch hat er die Freiheiten eingeschränkt. Wir haben keine Pressefreiheit mehr. Und von dem Geld, das Ungarn von der EU bekommen hat, sind laut Ökonomen 20 bis 30 Prozent in den Taschen von Orban und seinen Leuten gelandet. Das heisst: Die stehlen. Ausserdem ist seine ganze Politik auf Lügen aufgebaut.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Schauen Sie sich den Wahlkampf an. Die ganze Propaganda dreht sich darum, dass Millionen Migranten nach Ungarn kommen werden – und dass alle Oppositionellen damit beschäftigt sind, sie hier in unsere Wohnungen zu bringen. Diese Lügen sind einfach nur dumm.
Gehen Sie am Sonntag optimistisch zur Wahl?
Ich kenne keinen Optimismus oder Pessimismus. Aber ich habe Hoffnung.
Was stimmt Sie hoffnungsvoll?
Die Atmosphäre im Land hat sich verändert, die Bevölkerung ist aktiver geworden. In früheren Jahren war sie passiv, weil die Menschen glaubten, sie könnten sowieso nichts verändern.
Halten Sie es tatsächlich für möglich, dass die Linken und Liberalen mit der zumindest früher rechtsextremen Jobbik-Partei zusammenarbeiten könnten?
Ich glaube nicht, dass die Parteien zusammenarbeiten, aber die Wähler werden zusammenarbeiten. Die haben genug von Fidesz. Doch ob das für einen Sieg reicht, weiss ich nicht.
Sie waren früher selbst Ziel von antisemitischen Anwürfen der Jobbik-Partei. Glauben Sie, dass die sich geändert hat?
Natürlich, und nicht nur, weil sie es selbst sagt, sondern weil es in ihrem Interesse liegt, ins Zentrum zu rücken. Ganz rechts steht jetzt Fidesz, dort ist kein Platz mehr.
Ist die EU in den vergangenen Jahren zu vorsichtig und grosszügig mit Viktor Orban umgegangen?
Sie hat sicherlich weniger getan, als sie hätte tun können. Aber ich glaube nicht, dass dies das eigentliche Problem ist. Ungarn hat 1990 die Freiheit als Geschenk erhalten. Wir haben dafür nicht bezahlt, so wie zum Beispiel die Rumänen, und wir konnten mit dieser Freiheit nichts anfangen. Unsere Politiker waren tödlich naiv – und deswegen haben wir Orban bekommen, der überhaupt nicht naiv ist. Er ist ein Machtmensch, und nichts anderes als die Macht interessiert ihn. Mit Orban zahlen wir nun die unbezahlte Schuld von damals ab.
Immerhin findet Orban Nachahmer über Ungarn hinaus. Er gilt als eine Art Rollenmodell für rechte Populisten in Polen, Österreich, Italien und anderswo. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Der wesentliche Konflikt heutzutage ist nicht mehr zwischen rechts und links. Heute geht es um Föderalismus gegen Antiföderalismus, also Nationalisten gegen die Befürworter der EU. In ganz Europa gibt es gerade eine Art Verlobung der Nationalisten.
Was könnte denn passieren, wenn Orban nun die Wahl verliert?
Er würde den eigenen Untergang nicht tolerieren. Er hat schliesslich schon gesagt, dass alle Oppositionskräfte Spione sind oder Soldaten von George Soros. Wir wissen nicht, ob er Gewalt einsetzen würde, aber das ist auch eine Möglichkeit. Man kann sich bei ihm alles vorstellen.
Mit Agnes Heller sprach Peter Münch, Budapest
Fehler gefunden?Jetzt melden.
Dieser Artikel wurde automatisch aus unserem alten Redaktionssystem auf unsere neue Website importiert. Falls Sie auf Darstellungsfehler stossen, bitten wir um Verständnis und einen Hinweis: community-feedback@tamedia.ch