
In der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» hat der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss heute einen furiosen Essay über die gesellschaftspolitische Situation der Schweiz veröffentlicht. Mit viel Zug und Kraft knöpft sich der Autor die Wirtschaft und die Politik, die Kultur und die Medien vor. Alle kriegen ihr Fett ab, und es ist eine helle Freude, mal wieder so eine richtig böse Polemik zu lesen. Wann hatten wir zuletzt eine solche Wutrede?
Nach der Lektüre fühlt man sich in ein korruptes Drittweltland versetzt, so «zerrüttet», «gebeutelt» und abgehängt von allen modernen Entwicklungen ist das Land, das der Dramatiker mit Hassliebe beschreibt. Alles geht den Bach runter, es gibt kein Halten nirgends; überall ist Verlust an Qualität, Niveau und Haltung zu erkennen. Die Schweiz hat sich gänzlich dem Mammon verschrieben, Rettung verspricht sich der von seinem Vaterland enttäuschte Autor ausgerechnet von der amerikanischen Justiz, die dafür sorge, «dass die Eidgenossenschaft den Kontakt zu den zivilisatorischen Nationen nicht ganz verliert» (früher sahen die Linken in den USA die vereinten Übel dieser Welt!). Noch kurioser ist der hohe Ton, wenn es um den Einkaufstourismus in Jestetten geht: «Hoffnung für die Wirtschaft kommt nur aus deutschen Enklaven und den grenznahen Gebieten jenseits des Rheins.»
Je weiter die Darstellung des unaufhaltsamen Niedergangs unseres Kleinstaates fortschreitet, desto mehr drängt sich der Verdacht auf, dass auch die analytischen Fähigkeiten des Autors betroffen sind von diesem Zerfallsprozess. Zu viel Moral, das zeigt sich hier erneut, behindert die Erkenntnis. Wer Schaum vor dem Mund hat, kann nicht gut reden und sagt manchmal unbedachte Dinge: «Die Schweiz hat seit 1990 das niedrigste Wirtschaftswachstum aller OECD-Länder.» Das ist genauso falsch wie die Aussage, das «Du» sei eine «Zeitung» oder es gebe eine «Zürcher Weltwoche».
Attackenattitüde
Doch nicht die vielen Fehler machen die Schwäche des Textes aus. Es ist das undifferenzierte Zerzausen von allem und jedem, diese hirschhornsche Attackenattitüde: Ich nehme die Komplexität der Realität zwar nicht wahr, weiss aber, woran diese krankt. Was Bärfuss ausser der feinen Ironie fehlt, ist das sezierende Besteck der Dialektik – genau das, was nicht nur das linke Denken ausmacht. Die Einsicht, dass unser Land nach rechts driftet, sollte doch dazu führen, dass man die Gründe dafür herausarbeitet und ernsthaft Ursachenforschung betreibt. Stattdessen wickelt sich der Autor selbstgenügsam in der Paranoia ein.
Im Unterschied zu den rechten Kreisen, die beharrlich und mit geradezu missionarischem Eifer wie etwa Roger Köppel ihre Ziele über Jahre hinweg verfolgen, neigen viele linke Intellektuelle zu einer gewissen argumentativen Kurzatmigkeit. Das, was früher war, gegen jegliche Kritik zu verteidigen, macht sie zu Anwälten des Konservatismus (auch im Zürcher Theaterstreit, als der Autor dieser Zeilen die Relevanz bestimmter Häuser anzweifelte, bezog Bärfuss Position: So was darf ein Kulturchef nie machen). Solches Beharren auf alten Positionen ist in einer rasant sich bewegenden Welt zu wenig, um ernst genommen zu werden bei einer Bevölkerung, welche die Probleme des Landes durchaus kennt. Wenn Bärfuss aber von der Schweiz, diesem ökonomisch und künstlerisch potenten Land, als einem «Volk von Zwergen» spricht, dann bleibt er fern der Realität.
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Selbstgenügsam in der Paranoia
Lukas Bärfuss beschwört den Niedergang der Schweiz. Und was behindert die Erkenntnis des Autors? Eine Replik.