Sexuelle Übergriffe in Flüchtlingsheimen nehmen zu
Eine nationale Auswertung beziffert erstmals die Kriminalität in Asylzentren. Auch Angestellte sind unter den Beschuldigten.

Die 27-jährige Sara* sitzt im Solothurner Durchgangszentrum Balmberg, ihr einmonatiges Baby auf dem Arm. Aus Angst vor der Reaktion ihres Vaters auf die Schwangerschaft war sie drei Wochen vor der Geburt aus Albanien geflüchtet. In der Heimat war sie schon im Alter von 16 Jahren vergewaltigt worden.
Das Baby schläft friedlich. Bis sich ein Syrer Zutritt zu ihrem Zimmer verschafft. «Er entriss der Mutter das Kind und warf es auf ein Bett», sagt ihre Rechtsanwältin. «Dann fiel er über meine Mandantin her und vergewaltigte sie.» Das Opfer habe sich nach Kräften gewehrt und um Hilfe geschrien. «Doch niemand hat sie gehört.»
Die Gewalt, vor der Sara floh, wiederholte sich im Asylzentrum. So wie für Hunderte Flüchtlinge. Dies zeigt eine Spezialauswertung des Bundesamts für Statistik. Bei über 90 Prozent aller Straftaten erfasst die Polizei den Tatort. Letztes Jahr lautete dieser 813-mal «Flüchtlingsheim». Es gab 230 Verbrechen gegen die Freiheit wie Drohung oder Hausfriedensbruch. Oder 218 Taten gegen Leib und Leben, darunter 80 Körperverletzungen und vier Tötungsdelikte.
«Die Angst ist riesig, dass alles rauskommt, wenn man sich jemandem anvertraut oder sich bei der Polizei meldet.»
Die Gesamtzahl variiert stark. Eine Spitze von 1413 Delikten gab es 2012 nach dem Arabischen Frühling. Viele Kantone verstärkten die Aufgebote, im Aargau etwa erhöhte man mit dem Programm «Crime Stop» die Präsenz von Polizisten, Securitas und Sozialarbeitern. Seither sank die Zahl der Anzeigen in Heimen von 350 auf 95.
Sexualdelikte in Asylzentren hingegen nehmen schweizweit zu. 2017 waren es 33, darunter sechs sexuelle Handlungen mit Kindern und acht Vergewaltigungen. Und das ist kaum das gesamte Ausmass. «Es werden wohl nur die wenigsten Fälle angezeigt», sagt Matthis Schick, ärztlicher Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer am Zürcher Universitätsspital. Er therapiert Opfer und weiss aus Erfahrung: «In den Unterkünften wird fast jede unbegleitete Frau bedrängt oder belästigt.»

In vielen Herkunftsländern seien sexuelle Übergriffe extrem stigmatisiert, die Schuld werde dem vermeintlich ehrlosen Verhalten der betroffenen Frauen gegeben. «Die Angst ist riesig, dass alles rauskommt, wenn man sich jemandem anvertraut oder sich bei der Polizei meldet», sagt Schick. «Weil schwere Konsequenzen bis hin zum Tod drohen können.» Auch die Sprache könne ein Hindernis für eine Anzeige sein. Oder Betroffene kennen ihre rechtlichen Möglichkeiten zu wenig gut.
Angestellte der Zentren sind unter den Beschuldigten
Terre des Femmes Schweiz und die Kirchliche Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen kennen die Situation. In einem neuen Leitfaden schreiben sie: «Aktuell beschneidet die Unterbringungssituation oftmals die Privatsphäre oder die Sicherheit der Flüchtlinge. Es gibt Unterkünfte, in denen weder sanitäre Anlagen noch Schlafräume geschlechtergetrennt benutzt werden.» Dies erhöhe das Risiko von Gewalt und könne Betroffene beeinträchtigen. «Sie können sich in den ohnehin engen, oft schlecht ausgeleuchteten Räumlichkeiten nicht mehr frei bewegen, gehen nicht in den Aufenthaltsraum oder wagen sich nachts nicht auf die Toilette.»
Laut Projektleiterin Milena Wegelin braucht es bauliche Massnahmen. «Aber auch eine Sensibilisierung von Betreuern und Fachpersonen.» Diese müssten den Asylsuchenden aufzeigen, bei welchen Beratungsstellen sich Betroffene melden können. «Und ihnen vermitteln, dass sie dabei keine Konsequenzen befürchten müssen.»
«Es sind nicht nur die Asylsuchenden, die Übergriffe in den Heimen begehen.»
Zusammen mit der Kantonspolizei Bern wurden bereits Schulungen für Mitarbeitende in Zentren durchgeführt. Der Leitfaden gibt dabei auch Hinweise zur Täterschaft: «Das Abhängigkeitsverhältnis in den Unterbringungen kann auch zu Übergriffen durch betreuende Personen oder Mitarbeitende des Sicherheitspersonals führen.» Wegelin bestätigt: «Es sind nicht nur die Asylsuchenden, die Übergriffe in den Heimen begehen.»
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat seit 2015 acht Fälle von sexueller Belästigung oder Missbrauch in Bundesasylzentren abgeklärt. Vier Mal richteten sich die Vorwürfe gegen Angestellte. «In keinem dieser Fälle wurde bestätigt, dass Tatbestände erfüllt worden waren», sagt SEM-Sprecher Lukas Rieder. Die Arbeitsverhältnisse der externen Mitarbeiter wurden dennoch aufgelöst. «Dies aufgrund der festgestellten fehlenden professionellen Distanz.»
Fünf Jahre Haft für den Täter, kein Asyl für das Opfer
Mitarbeiter der Bundesasylzentren würden laufend geschult. «Unter dem Stichwort ‹Nähe und Distanz› wird insbesondere darauf hingewiesen, dass private Beziehungen zu Asylsuchenden nicht toleriert werden», sagt Rieder. Gleichzeitig kläre man auch die Flüchtlinge auf. «Etwa über die in der Schweiz geltenden Verhaltensregeln. Inklusive Angabe der Stelle, an die sie sich im Falle von Übergriffen wenden können.»
Sara schwieg anfangs. «Niemand in der Unterkunft sprach ihre Sprache, und da sie sich schämte, vertraute sie sich erst zwei Tage später einer Freundin an», sagt ihre Rechtsanwältin. «Diese meldete den Vorfall dann der Leitung des Durchgangszentrums, die umgehend die Polizei involviert hat.»
Am Montag wurde der Täter zu fünf Jahren Haft verurteilt. Sara erhielt bereits vor dem Übergriff einen negativen Asylentscheid. Sie wird in absehbarer Zeit mit ihrem Kind nach Albanien zurückkehren.
* Name geändert
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