Sie ist wach
In «Glaubenberg» liebt Lena ihren Bruder. Passt grad zu den Träumen, die im Schweizer Film derzeit krank machen.
Was ist bloss in den Schweizer Film gefahren? Für Visionen ist er ja gar nicht bekannt, aber nun: Imagination rundum – oder sind es nur Hirngespinste? Bei der 16-jährigen Lena (Zsofia Körös) in «Glaubenberg» kann man von einer Fixierung reden: leidenschaftlich, aber auch ungesund. Lena mag ihren Bruder Noah (Francis Meier) sehr, das sieht man gleich, wenn sie ihn an der Schulveranstaltung anstrahlt und sofort zusammenzuckt, sobald eine andere Frau nur schon in seine Richtung lächelt. Lena kommt in die Schule, die Noah kürzlich abgeschlossen hat; der Bruder reist zum Archäologiepraktikum in die Türkei.
Lena bleibt daheim in Zürich-Nord, schreibt ihm eine SMS um die andere. Ihre Eltern, die für alles Verständnis haben, kommen aufs Offensichtlichste nicht: dass Lena Noah liebt, dass sie, wenn sie von ihm träumt, Sachen macht mit ihm. Nur ihrer Chemielehrerin Julia vertraut sie sich an. Die kennt Noah auch, oder hatte sie sogar was mit ihm?
Hier hat der Zürcher Regisseur Thomas Imbach bereits die Welt von Vorstellung und Rätsel betreten, die intimen Gespräche mit ihrer Lehrerin denkt sich Lena (wahrscheinlich) nur aus; und bruchlos gleiten diese Fiktionen hinüber in die Fantasien, die sie sich von Noah macht.
«Was empfand ich für Lust!»
So ein Drama einer jugendlichen Selbstverzehrung hätte man von Thomas Imbach nicht unbedingt erwartet. Noch ist im Kopf, wie er in «Day is Done» (2011) aus seinem Atelierfenster heraus ein Zürich porträtierte, das gerade seine Zukunft hinklotzt. «Glaubenberg» – der Pass ist der Ort von Kindheitserinnerungen, aber auch Symbol für alles Dunstig-Unfassbare – gäbe ja auch den Stoff her für eine Komödie der Peinlichkeiten: Eine wahnsinnige Schwester stellt ihrem Bruder nach, platzt plötzlich in verrauchte WG-Abende.
«Glaubenberg» geht recht weit: dorthin, wo die Liebe richtig krank macht.
Thomas Imbach hält sich lieber an eine melodramatische Logik und verbindet sie mit Motiven aus Ovids «Metamorphosen», wo Byblis nach ihrem Bruder Kaunos schmachtet: «Oh, was empfand ich für Lust! Wie deutlich gefühltes Entzücken nahm mich dahin!»
Glauben soll man es auch?
Er kann das sehr gut. Wenn Tagtraum und Realität ineinanderfliessen, sodass Lena die Storen öffnet und sagt, «Ich bin wach, du kannst gar nicht mehr da sein», und die Kamera wieder zurückschwenkt auf ein Bett, in dem jetzt kein Noah mehr liegt – das ist souveräne Beherrschung der Form. Und zugleich ist es ein merkwürdig gleichförmiger Film; er macht einen recht dösig vor lauter Sehnsuchtsträumen.
Dabei geht «Glaubenberg» weit: bis in die Türkei und dorthin, wo die Liebe richtig krank macht. Wo aus Einbildung Besessenheit wird und das Verlangen verwildert. Nicht uninteressante Parallelen gibt es zu «Der Unschuldige» von Simon Jaquemet: Ruth, Freikirchen-Mitglied, verheiratet mit einem lieben Mann, erscheint auf einmal der Geliebte von früher, oder sieht sie einen Geist? Auch da gibt es eine dynamische Grenze zwischen Vorstellung und Irrsinn und wird eine Frau maximal erschüttert. Ist das, was sie sieht, die Projektion eines inneren Wahns?
Am Ende ist es, wie bei Thomas Imbach, Behauptung durch Stil. Sauber gemacht, all diese fliessenden Übergänge und Albtraumbilder in feinsten Verläufen, all die Surrealismen und Metaphernspiele, aber glauben soll mans jetzt auch noch? Das ist doch ein bisschen viel verlangt. Wobei die Freikirchler Ruth dann sehr handfest managen, damit der Dämon aus ihr entweicht. Da liefert Jaquemet die Soziologie zu Imbachs Liebespsychologie: Ruths Verhalten wirkt unerklärlich, weil es auch Lust- und Lebensimpuls ist – ein Drang, der in dieser gespenstisch eigenschaftslosen Schweiz sogleich pathologisiert werden muss. An welch erschreckenden Orten sich diese Leute immer treffen! Wurstbuden vor Einkaufszentren, Serverräume, Einkaufspassagen: Wen wundert es da, dass Imagination in Psychose kippt?
Das Geisterhafte an beiden Filmen ist, dass Träume krank machen, weil sie als krank gelten. Bei Simon Jaquemet hat das auch etwas mit der Schweiz zu tun. Thomas Imbach klebt lang an den Gesichtern seiner Darsteller, bis man selber die Storen öffnen möchte, um etwas vom Land zu sehen.
«Der Unschuldige» läuft jetzt im Kino; «Glaubenberg» ab 22. 11.
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