«Sie tippte mir auf die Stirn und sagte, mein Gehirn sei zu klein»
Mobbing an der ETH: Ehemalige Doktoranden erzählen, wie eine Professorin sie erniedrigte.
«Die Situation ist ernst. Hier herrscht das Chaos», beschreibt ein Doktorand die derzeitige Stimmung an der ETH. Mit wem man auch spricht, Professoren, Doktoranden und Studierende: Sie reagieren alle emotional. Quasi über Nacht wurde im August das Institut für Astronomie aufgelöst. Die Schliessung vollzog die ETH im Stillen. Die Öffentlichkeit erfuhr davon erst vor einer knappen Woche, als die «NZZ am Sonntag» den Fall aufdeckte. Die Zeitung berichtete über systematisches Mobbing, das die Professorin Gabriela M. ausgeübt haben soll. Die italienische Professorin und ihr Ehemann, der bisherige Institutsleiter, wurden in ein Sabbatical geschickt. Vorgestern gab die ETH-Leitung bekannt, dass sie die Verhältnisse im früheren Institut vertieft analysieren wolle.
Dabei könnte die ETH erfahren, dass die Mobbingvorwürfe weitaus gravierender sind, als bisher bekannt. Der TA trat mit aktuellen und ehemaligen Doktoranden in Kontakt, die ihre Erfahrungen mit Gabriela M. unter Gewährleistung der Anonymität schildern. «Sie tippte mir auf die Stirn und sagte, dass mein Gehirn zu klein für die Inhaltsaufnahme sei», sagt ein ehemaliger Doktorand. Eine Betroffene erinnert sich an eine Episode, als sie nach einem Misserfolg verzweifelt an ihre Professorin gelangte. «Wie reagierst du beim nächsten Misserfolg? Möchtest du dich dann gleich aus dem Fenster stürzen?», habe die Professorin gesagt. Und sie habe den Satz mehrere Male wiederholt, mit «einem verrückten Lächeln auf dem Gesicht». «Ich fühlte mich äusserst unwohl. Ab einem gewissen Zeitpunkt begann ich zu glauben, dass sie mir den Fenstersprung ernsthaft nahelegen wollte.»
«Ihr seid wie Hausangestellte»
Berüchtigt seien die sogenannten Swot-Meetings gewesen, sagt ein ehemaliger Doktorand. «Swot» steht für «Strengths, Weaknesses, Opportunities and Threats» (Stärken, Schwächen, Chancen und Bedrohungen). Jeder sei einzeln gebeten worden, seine persönlichen «Swots» in ihrem Büro vorzutragen. Nach einer kurzen Anhörung habe dann nur noch eine Person gesprochen: Gabriela M. «Sie wendete wortwörtlich Stunden dafür auf, um uns unsere Schwächen vorzuhalten.»
Ein weiterer Doktorand, heute ebenfalls nicht mehr an der ETH, erinnert sich an eine andere Sitzung. Eigentlich galt das Treffen dem Zweck, bevorstehende wissenschaftliche Papiere zu besprechen. Stattdessen wurde sie von Gabriela M. auf persönlicher Ebene angegangen. Sie habe gedroht: «Ihr seid wie Hausangestellte. Wenn meine Hausangestellte ihren Job nicht erledigt, dann feuere ich sie.» Die Sitzung habe erst geendet, als seine Kollegin angefangen habe zu weinen.
Auch für Männer war der psychische Druck gross. Ein ehemaliger Student beschreibt, wie er wegen der Professorin einst einen Nervenzusammenbruch erlitten habe. «Sie malträtierte mich und warf mir eine mangelhafte Arbeitseinstellung vor.» Erst nachdem er zu weinen begann, habe sie aufgehört. Nach dem Vorfall suchte er den Psychologischen Dienst der ETH auf und schilderte seine Erlebnisse. Das war noch vor 2010.
Problemfälle möglichst früh erkennen
Trotz mehrfacher Kontaktaufnahme wollte das Professorenpaar bisher keine Stellung beziehen. «Es ist erschreckend, dass die Vorkommnisse erst jetzt aufgearbeitet werden», sagt der Postdoktorand. Dabei hätte es die ETH schon sehr viel früher merken können – oder gar müssen. Seit 2008 gibt es an der Hochschule ein interdisziplinäres Team, welches sich alle sechs bis acht Wochen trifft. Dabei tauschen sich Vertreter der Personalabteilung, der Akademischen Dienste, der Abteilung Sicherheit, Gesundheit, Umwelt sowie eben auch der Psychologische Dienst über Angehörige der ETH aus. Ziel ist es, Problemfälle möglichst früh zu erkennen, um darauf reagieren zu können.
Die ETH lässt sich diesbezüglich nichts vorwerfen. «Die Schulleitung hat erstmals im Februar 2017 von den Vorwürfen erfahren und sehr schnell mit einem Paket von Sofortmassnahmen reagiert», sagt ETH-Mediensprecherin Claudia Nägeli. Innert drei Tagen habe man mehrere betroffene Doktorierende auf deren Wunsch einer anderen Betreuungsperson zugeteilt und «ein System zum Schutz von zukünftigen Doktoranden» eingeführt. Im August sei es schliesslich zur Auflösung des Instituts gekommen. Die Schulleitung habe vorerst bewusst auf eine Administrativuntersuchung verzichtet. «Eine Einleitung hätte Sofortmassnahmen möglicherweise eingeschränkt», sagt Nägeli. Der Entscheid von dieser Woche, doch eine Untersuchung zu lancieren, sei nicht aufgrund des medialen Drucks erfolgt.
Nebst vielen Vorwürfen erhält die Professorin nun auch Support – von ehemaligen Betreuten, Gastdozenten und Zürcher Arbeitskollegen. Sie verfassten diese Woche einen Brief «zur Unterstützung» des Professorenpaars. Im Schreiben, das dem TA vorliegt, rühmen sie in erster Linie dessen wissenschaftliche Verdienste.
«Eine regelrechte Hexenjagd»
Einer der Unterzeichner ist George Lake von der Universität Zürich. «Wer in der Astronomie durchstarten will, muss tough sein», sagt der Physikprofessor. Das gelte besonders für Frauen, die an der ETH in der deutlichen Unterzahl seien. Das Verhältnis von nur 2 Professorinnen zu rund 50 Professoren im Departement Physik spreche eine deutliche Sprache. Gabriela M. habe sich dank ihrer hartnäckigen Art durchsetzen können. «Das wird ihr nun zum Vorwurf gemacht.»
So wird es auch im Brief dargestellt: Gabriela M. als aufopfernde Kämpferin in einem männerdominierten Umfeld. «Viele sehen sie als ein Vorbild und wollten sich ihr gegenüber beweisen.» Lake ärgert sich: Nicht die Professorin sei das Problem, sondern das patriarchalische System, das vielerorts in der Wissenschaft – auch an der ETH – vorherrsche. Statt sich dem eigentlichen Problem zu stellen, werde nun ein Opfer gesucht: «Was hier stattfindet, ist eine regelrechte Hexenjagd.»
Tatsächlich tat sich Gabriela M. an der ETH als Kämpferin für die Anliegen der Frauen hervor. 2012 gründete sie zusammen mit sieben Mitstreiterinnen das ETH Women Professor Forum. Der Verein setzt sich für Chancengleichheit ein und will Frauen zu Karrieren verhelfen – Karrieren, wie sie Gabriela M. bisher machte. Die gebürtige Italienerin wird in ihrem Heimatland seit einigen Jahren auf einer Liste von Top-Akademikerinnen geführt und gewann 2013 den renommierten Winton Capital Award.
«Du bist dumm, du bist langsam»
Eine Postdoktorandin bekam die Frauenförderung allerdings nicht zu spüren. Regelmässig sei sie vor ihren männlichen Kollegen zum Weinen gebracht worden: «Du bist bereit, mit Herz und Seele alles zu geben, und träumst davon, einmal Professorin zu werden. Und du findest gar eine Professorin, die dich ermutigt und deine Träume versteht.» Doch dann sei aus dem Traum allmählich ein Albtraum geworden, sagt die Postdoktorandin. «Du kannst die Ziele nur mit ihr erreichen, doch für sie bist du ein Nichts. Sie ist deine Vorgesetzte, und in jeder Sitzung sagt sie: ‹Du bist dumm, du bist langsam.›»
Wer in diesen Tagen durch die Gebäude der ETH geht, erhält den Eindruck, dass die Hochschule das Problem erkannt hat. An den Wänden hängen Plakate einer neu lancierten Respektskampagne. Ein Spruch darauf lautet: «Es hat Platz für jeden, aber nicht für alles – Mobbing NO!»
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