Sitzen gelassen
Rollstuhlfahrer werden ungefragt geduzt, Sehbehinderte vor der Disco abgewiesen: Der Alltag von Menschen mit Handicap ist immer noch voller Hindernisse und Demütigungen.

Im Grunde ist es ein No-go: Die neuen Bombardier-Züge der SBB dürfen seit zwei Monaten eingesetzt werden, obwohl sie nicht behindertengerecht sind. Die Rampe zum Ein- und Aussteigen ist so steil, dass sie die meisten Rollstuhlfahrer nur mithilfe anderer benutzen können. Die Bewilligung gilt allerdings nur bis diesen Herbst. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, ob die Wagen umgebaut werden müssen, steht noch aus.
Die SBB-Panne ist kein Einzelfall. Die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung hat System. Allein die Einstellung, dass behindertengerechte Lösungen eine Zusatzleistung seien, die die Gesellschaft freiwillig erbringe, ist diskriminierend. In der Schweiz leben rund 1,8 Millionen Menschen, darunter auch MS- oder Parkinsonkranke und Rollatorbenutzer, die in ihrem täglichen Leben eingeschränkt sind. Viele von ihnen sind auf eine «Zusatzleistung» beziehungsweise auf den Goodwill von Nichtbehinderten angewiesen, und doch kommt es immer wieder vor, dass sie schlicht vergessen gehen, wenn es um die Gestaltung des Alltags geht.
Eine repräsentative Umfrage von Pro Infirmis hat 2016 ergeben, dass rund die Hälfte der Schweizer Bevölkerung der Meinung ist, es müsse mehr getan werden für einen barrierefreien Zugang zu Restaurants, Läden, Banken oder Arztpraxen. Im kollektiven Bewusstsein ist die Benachteiligung zwar präsent, und seit dem Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes (Behig) im Jahr 2004 hat sich auch einiges getan. Doch die Mühlen mahlen langsam.
Von der Gesellschaft nicht für voll genommen
Gemäss dem Behig müssten öffentliche Bauten sowie öffentliche Fahrzeuge bis Ende 2023 so umgerüstet werden, dass sie Behinderte selbstständig nutzen können. Bis jetzt sind erst 10 Prozent der Bushaltestellen und 45 Prozent der Bahnhöfe behindertentauglich. Illusorisch, dass die Umbauten in fünf Jahren fertiggestellt werden. Der Rückstand wird gerne mit finanziellen Gründen entschuldigt. Doch eigentlich spiegelt er exemplarisch die unterschwellig abwertende Haltung, wie sie sich auch in Alltagssituationen manifestiert: Man nimmt Menschen mit Behinderung zu wenig ernst.
«Als Rollstuhlfahrer werde ich zum Beispiel regelmässig geduzt», sagt Peter Wehrli. Gerade ist der Geschäftsführer des Zentrums für selbstbestimmtes Leben (ZSL) mit seinem Elektrorollstuhl unterwegs zum Hauptbahnhof Zürich, weil er in Bern eine Sitzung hat. Die Strecke ist für ihn Routine, er weiss genau, welche Trottoirs abgeflacht sind. «Als wir früher noch als Familie unterwegs waren, hat der Kondukteur unsere Kinder gefragt, wohin meine Frau, die ebenfalls im Rollstuhl sitzt, und ich denn fahren und ob wir ein Ticket hätten.»
Unglaublich, aber wahr: Auch im Restaurant sei es heute noch so, dass seine nicht behinderte Begleitung hin und wieder gefragt werde, was er denn bestellen möchte. «Ich werde von der Gesellschaft offensichtlich nicht für voll genommen, was auf die Dauer so unerträglich ist, dass ich darüber nur noch lachen kann», sagt der studierte Psychologe.
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Bilder: High-Tech für Behinderte
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In der Zwischenzeit ist Wehrli am Perron angekommen. Der Lift, sein einziger Zugang zum Gleis, war – Gott sei Dank – nicht ausser Betrieb. Ganze zwei Stunden vorher musste sich Wehrli bei den SBB telefonisch anmelden, damit ihm ein sogenannter Mobi-Helfer beim Einsteigen behilflich ist. Für nicht behinderte Berufstätige, die kurz vor der Abfahrt online ein Ticket kaufen können, wäre das blanker Irrsinn. Wehrlis Zug ist bereits eingefahren, doch vom Mobi-Helfer keine Spur. «Das sind für mich jeweils Momente der Panik. Dass man mich vergessen hat und ich deshalb meinen Termin verpasse.» Wehrli fragt sich durch. Endlich winkt einer. Beim Aussteigen in Bern erwartet Wehrli dasselbe Prozedere. Sein Planungsaufwand für den Tag in Bern: 3 bis 4 Stunden. Und sollte seine Sitzung früher fertig sein als vorgesehen, muss er die Zeit in Bern irgendwie totschlagen. Spontan einen Zug früher nehmen kann er als Rollstuhlfahrer nicht.
Die Einschränkungen im Alltag sind für Wehrli omnipräsent. Egal, was er unternimmt, die Frage nach der geeigneten Toilette muss er im Gegensatz zu Nichtbehinderten immer stellen. «Ich muss mich also dauernd mit Intimitäten blossstellen, nur weil Behindertentoiletten kein Standard sind», moniert Wehrli. Rund 90 Prozent der Läden in Zürich, schätzt der 57-Jährige, könne er nicht nutzen, weil sich vor deren Tür ein Stufenabsatz befinde. Dasselbe Problem hat er in den meisten Restaurants. «Dabei liesse sich mit relativ wenig Aufwand eine ausfahrbare Rampe installieren – in Frankreich ist dies in vielen Geschäften der Fall», meint Wehrli.
Bisweilen nimmt die Diskriminierung schon fast skurrile Formen an, wie Marc Moser von der Dachorganisation Inclusion Handicap zu berichten weiss. So wurde einem sehbehinderten Jugendlichen letztes Jahr der Zutritt zu einer Genfer Disco verweigert, weil er von seinen Freunden beim Gehen gestützt wurde und der Türsteher glaubte, der 18-Jährige sei alkoholisiert. Als die Gruppe klarmachen konnte, dass dies nicht der Fall war, musste der Sehbehinderte trotzdem draussen bleiben mit der Begründung, die Disco könne nicht für seine Sicherheit garantieren. Dieselbe Realsatire ereignete sich in einem Genfer Kino, das einem Rollstuhlfahrer das Ticket verweigerte, weil er im Fall einer Evakuierung ein Sicherheitsrisiko darstelle. «Es gibt Hunderte solcher Fälle, die von der Öffentlichkeit jedoch kaum wahrgenommen werden», sagt Moser.
Internet ist noch lange nicht barrierefrei
Bis März dieses Jahres mussten zum Beispiel Rollstuhlfahrer bei den Fluggesellschaften Swiss und Edelweiss ein Arztzeugnis vorweisen, wenn sie fliegen wollten. «Das ist eine diskriminierende Praxis, da die Passagiere persönliche Angaben über ihren Gesundheitszustand preisgeben mussten, obwohl dies für die Tatsache, dass jemand im Rollstuhl reist, völlig irrelevant ist», erklärt Moser. Erst als Inclusion Handicap intervenierte, hatten die beiden Fluggesellschaften ein Einsehen.
Seit dem Inkrafttreten des Gleichstellungsgesetzes für Menschen mit Behinderung vor 14 Jahren gibt es gerade mal ein einziges Gerichtsurteil, das eine Diskriminierung aufgrund des Gesetzes feststellte. Und dies war ein beschämend eindeutiger Fall: Fünf behinderten Kindern der Heilpädagogischen Schule Heerbrugg wurde der Zutritt ins Hallenbad Unterrechstein AR verweigert, weil die Geschäftsleitung Angst hatte, deren Anwesenheit könnte die anderen Gäste stören und das Hallenbad würde deshalb Kunden verlieren. Das Ausserrhoder Kantonsgericht sprach 2017 ein wegweisendes Urteil: Das Verhalten der Geschäftsführung sei eine Demütigung von Personen mit Behinderung.
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Bilder: Alltagshilfen für Sehbehinderte
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Allerdings, betont Marc Moser von Inclusion Handicap, landen die meisten Fälle gar nie vor Gericht, weil den Betroffenen die finanziellen Mittel fehlten und die Aussicht auf Erfolg gering sei. Deshalb hat auch Anja Reichenbach keine Anzeige erstattet, als man sie mit ihrem Blindenhund nicht in ein Berner Restaurant lassen wollte. Tiere seien nicht erlaubt, hiess es. Als sich die Bernerin an die Presse wandte, stritten die Betreiber den Vorfall ab. «Das hat mich schockiert», räumt Reichenbach ein. Die 29-Jährige sieht nur noch 10 Prozent, ihr Gesichtsfeld ist noch stärker eingeschränkt. «Ich kann aber lesen, wenn der Text auf dem Bildschirm sehr nah und vor allem vergrössert ist.»
Im Alltag ist die Projektleiterin genauso auf die Onlinewelt angewiesen wie alle andern. Es gibt zwar eine Software für Computer und Smartphones, die vorlesen und Seiten vergrössern sowie Kontraste verbessern kann. Allerdings müssen die Internetsites auch so programmiert sein, dass die Software sie entschlüsseln kann – und dies ist in der Schweiz noch lange nicht überall der Fall. Ganz anders in den USA. Dort ist der barrierefreie Zugang zum Internet so weit fortgeschritten, dass Reichenbach zum Beispiel relativ bequem die sozialen Medien nutzen kann.
Die unliebsame Rolle der ewigen Bittsteller
E-Banking in der Schweiz sei dagegen ein Horror, findet Reichenbach, weil die Websites der Banken viel zu unübersichtlich seien. News auf Schweizer Onlineportalen kann sie ebenfalls nur teilweise lesen. Die Bernmobil-App sei unbrauchbar, weil Fahrpläne von hinten nach vorne vorgelesen werden, was völlig unsinnig sei. Beim Onlineshopping gebe es sowohl sehr gute Angebote wie die Migros-App LeShop als auch sehr schlechte wie Coop@home.
Am schlimmsten ist für Reichenbach jedoch das analoge Abstimmen auf Papier. Jemand muss stets ihre Hand führen, damit sie ins Kästchen ein Ja oder Nein schreiben kann. Das ist nicht nur demütigend, das widerspricht dem Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben. «Wenn es um E-Voting geht, denkt man immer an die Auslandschweizer, aber in der Schweiz leben an die 325 000 Sehbehinderte, die nicht alle selbstständig abstimmen können.» Für Anja Reichenbach ein Indiz mehr, dass Menschen mit Behinderung stets in der Rolle der Bittsteller sind, weil sie nicht automatisch mitgedacht werden.
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