Skination Schweiz? Früher vielleicht
Einst rannten wir als Kinder heim, um ja jedes Skirennen am TV zu sehen. Nun hat der Sport mächtige Gegner.

Die Skiwelt wartet auf das Rennen aller Rennen: die WM-Abfahrt der Männer. Es ist Samstag, die holzgeschnitzte Uhr im Restaurant Neusell zeigt 11.58 Uhr. Noch zwei Minuten bis zum Start. Nebenan hängt ein Zettel: «Kaffee Neusell – nur für harte Typen – 8 Franken.» Der Fernseher läuft, doch Donnerwetter, die Beiz ist halb leer. Die Gäste des kleinen Skigebiets bei Rothenturm SZ sind auf der Piste oder verweilen an der Sonne. Auf der Terrasse ist die Abfahrt höchstens einen Blick auf das Smartphone wert: «Nebel in St. Moritz, verschoben. Da haben wirs hier besser», sagt einer. Lacher. Währenddessen fachsimpeln drinnen zwei Gäste: «Früher gab es nur die Österreicher und uns. Heute hat es mehr von den anderen – Italiener, Franzosen, auch Tschechen.»
Das Innere der Beiz offenbart: Es muss in den vergangenen Jahren etwas passiert sein. In der Erinnerung gab es eine Zeit, da war das Restaurant Neusell bei Skirennen zum Bersten voll. Alle Blicke klebten an der Kiste, die heute ein Flachbildschirm ist. Das Gefühl sagt zugleich, es gab eine Zeit, da wussten acht von zehn Schweizern, was ein Innenskifehler ist. Bernhard Russi hat es ihnen beigebracht, Wochenende für Wochenende. Als Kinder rannten wir heim von der Schule. Skirennen warten nicht auf Spätkommende. Es war das einzige Mal in der Woche, an dem Essen vor dem Fernseher genehm war. Es war eine Zeit, an der sich in uns ein Selbstverständnis nährte: Wir sind eine Skination.
Und heute? Das Ritual, mit der Familie Skirennen zu schauen, ist keines mehr. Gemäss einer TA-Umfrage finden über 60 Prozent der Leser, dass der Stellenwert des Skisports abgenommen habe.

Etwas ist geschehen in den letzten Jahren. Vor 30 Jahren war die WM in Crans-Montana, und die Schweiz probte den Eintritt ins Ski-Nirwana. 14 Medaillen. Nie waren die Skifahrer besser, nie dominanter. Es waren Schweizer Skimeisterschaften mit internationaler Beteiligung. Die Menschen schwadronierten, der Skistock habe gekalbert. Skifahrer wurden zu Nationalhelden. Ei, was wird noch heute davon geschwärmt, um dann anzufügen: «Heute ist das unvorstellbar.»
War früher wirklich alles besser?
Peter Müller muss um die Situation wissen, er hat damals im Wallis Gold geholt. Er war der beste Abfahrer, Lauberhornsieger, Erzrivale von Pirmin Zurbriggen. Nie genug geliebt, immer etwas belächelt, doch pfeilschnell. Heute führt er ein Sportgeschäft in Zug mit einer Hundertschaft Ski. Startnummern, Pokale und Bilder aus seiner Zeit zieren das Innere.

«Schon bei uns haben die Leute gesagt, ‹früher war alles besser›», sagt Müller. Er findet, wir seien Opfer des Moments. Tatsächlich gleicht die Skieuphorie einer Wellenbewegung. 1987 schrieb der «Blick» vom «Goldregen über Montana». Sieben Jahre später titelte er: «Die goldenen Ski-Tage sind vorbei.» 1996 kam die Euphorie zurück – Vierfachtriumph in der Abfahrt von Veysonnaz. Sie hielt nicht lange, bei der WM 2005 in Bormio hiess es: Switzerland zero – null Medaillen.

Ein Kunde in den Dreissigern betritt das Geschäft. Müller geht auf ihn zu und erzählt von 12 verschiedenen Skiklassen, vom billigeren Modell und vom teuersten, «der Limousine des Geschäfts». Viele Informationen auf einmal, der Kunde will gehen. Eine Frage noch: Schauen Sie Skirennen im TV? «Kaum mehr.» Warum? «Früher gab es Pirmin Zurbriggen und Vreni Schneider, die haben viel gewonnen und waren sympathisch.» Peter Müller runzelt seine Stirn. Beim Verlassen des Ladens sieht der Kunde die vielen Pokale und Bilder. Er hält inne, stoppt und fragt: «Peter Müller – sind Sie auch einmal Ski gefahren?»
Helden und Erfolge werden also auch vergessen. Kinder verlernen den Brauch von Mittagessen und Skirennen. Muss man sich sorgen? Der höchste Schweizer begegnet der Entwicklung gelassen. Jürg Stahl ist Nationalratspräsident und als Präsident von Swiss Olympic der höchste Sportler im Land. «Auch wenn das vielleicht schade ist: Die Zeiten ändern sich.» Das Sportinteresse der Jungen verlagere sich. «Wichtig ist mir, dass sie Sport treiben. Das tun sie.»
Ähnlich sieht es Peter Müller. Die Jugend habe heute viel mehr Möglichkeiten, ihre Zeit zu vertun. «Das fängt bei der Auswahl von Sportarten an und hört beim Handykonsum auf.» Ein Skirennen am Samstag zu schauen, wird da zur Ausnahme. Müller spricht aus eigener Erfahrung, seine Töchter laufen samstags lieber OL, treffen Freunde – oder verbringen Zeit am Telefon.
Es gibt aber Fakten, die selbst eine kleiner werdende Skination beschäftigen sollte. Eine Studie des Wirtschaftsforums Graubünden von 2014 zeigt: Es wird in der Schweiz immer weniger Ski gefahren. Die Zeiten sind vorbei, als Familien zwei Wochen in die Berge fuhren. Die Winter scheinen vorüber, als es Schneetage von November bis April gab. Und: Zwischen 2005 und 2015 sank die Zahl der Schullager von 2600 auf 2300. Der Sport ist daran, seine Basis zu verlieren.
Migration: Gefahr oder Chance?
Dies bringt eine Skination zweifach in Not: Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass Kinder mit dem Skisport aufwachsen. Und die Chance wird kleiner, dass Athleten die Weltklasse erreichen.
Es gibt Stimmen, die sehen Immigrantenkinder als einen der Treiber dieser Entwicklung. Die NZZ schrieb einmal: «Im Fussball wird die Migration gemeinhin als Chance verstanden, im Skisport eher als Gefahr.» Nur ist gemäss der Bündner Studie der Anteil der Zuzüger ohne Schneesporttradition seit 20 Jahren relativ konstant. Er beträgt rund 16 Prozent.
Um den Skisport stärker verankern zu können, braucht es vor allem eines: Erfolg. Er gibt dem Sport Aufmerksamkeit, er stärkt dieses diffuse Wir-Gefühl, er lockt vor den Fernseher und auf die Piste. Waren die Skifahrer früher allein, müssen sie heute das sportliche Juhee-Gefühl mit den Tennisspielern, den Fussballern oder den Eishockeyspielern teilen. Die Skifahrer hatten lange das Monopol auf den Job als Aussendienstler des Heimatgefühls. Nicht mehr heute. Gewinnen sie, können sie dieses Gefühl hervorrufen. Verlieren sie, sorgen andere dafür. Gestern war Beat Feuz wieder einmal ein Aussendienstler erster Güte.
Fördern statt schützen
Wir fassen zusammen: Es ist ein Unwetter gesellschaftlicher Art, das über die Skination Schweiz hereinzieht. Dieses zu bewältigen, ist eine grössere Herausforderung, als an einer WM 14 Medaillen zu gewinnen. Ist Skifahren Kulturgut? «Ja», sagt Nationalratspräsident Stahl. Muss man es schützen? «Nein», sagt er. «Aber fördern.»
Kürzlich war das Skigebiet Saas-Fee an einem Sonntagmittag wie ausgestorben – kaum jemand am Lift, kaum jemand auf der Piste. Die Beizen aber waren voll. Die Menschen schauten fern. Federer gegen Nadal. Wir sind eine Tennisnation. Und eine Skination. Mindestens.
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