Ein Punk versucht, die Zugpassagiere mit lauter Musik zu schocken. Vergebens. Die Teenager an ihren Handys finden es nur lustig. So gesehen, ist der Regionalzug von Biel nach La Chaux-de-Fonds ein ganz normaler Regionalzug. Wären da nicht die bekannten Firmenschilder, die vor dem Fenster vorbeiziehen.
Das Seniorenpaar im Nachbarabteil ruft jedes Mal begeistert, wenn wieder eines auftaucht: «Omega, ETA, Longines». Dann fragt die Frau: «In der Schweiz soll es doch auch so etwas wie ein Silicon Valley geben.» «Ja, das sollte eigentlich hier sein», antwortet ihr Mann. Aber so sicher sei er sich auch nicht.
Mir geht es gleich, und darum sitze ich im selben Zug. Vor zwei Jahren hat TAG Heuer angekündigt, zusammen mit Google und Intel eine Smartwatch zu bauen. Ein halbes Jahr später kam sie auf den Markt. Gestern wurde das Nachfolgemodell vorgestellt, und die spannendste Neuerung fällt wohl kaum jemandem auf, der die Uhr trägt.
Eigene Produktionsstrasse
Wurde das erste Modell noch in einer Intel-Fabrik in der Deutschschweiz zusammengebaut, hat TAG Heuer nun in La Chauxde-Fonds, nur ein paar Schritte vom Büro des Chefs entfernt, eine eigene Produktionsstrasse für die Smartwatch eingerichtet.
Seit ich von den Plänen erfahren habe, habe ich mich um einen Besichtigungstermin bemüht. Immer wieder vergebens: Die Halle sei noch nicht parat, die Wände würden gerade erst gestrichen usw. Doch nun zur Lancierung der neuen Uhr ist die Produktionsstrasse parat, und ich bin eingeladen.
Die Parallelen mit dem Silicon Valley beginnen, wenn man in La Chaux-de-Fonds aus dem Zug steigt. Wie San Francisco hat auch die Stadt im Uhrental schon bessere Tage gesehen. Ich staune immer wieder, wie wenig von dem Geld, das in und vor allem südlich von San Francisco erwirtschaftet und ausgegeben wird, der Stadt zugutekommt. Ganz so ausgeprägt ist das in La Chaux-de-Fonds zum Glück nicht.
Kein Geheimniskrämer
Die zweite Parallele zum Silicon Valley und zur dortigen Start-up-Kultur begegnet mir in Form des TAG-Heuer-Chefs Jean-Claude Biver. Ich treffe ihn im Treppenhaus, wie er einem Reporterteam aus dem Welschland hilft, einen sperrigen Koffer herunterzutragen. In Sachen Elan und Begeisterung muss sich der 68-Jährige vor keinem 20-jährigen Start-up-Chef verstecken.
Bei Salat und Wasser frage ich ihn zu seiner neusten Uhr und seinen Plänen aus. Ich staune immer wieder, wie offen er auch über zukünftige Produkte spricht. Als ich ihm erzähle, dass mir Android-Uhren zu gross sind, kündigt er im Nebensatz ein kleineres Modell für den Herbst an. Undenkbar bei den Geheimniskrämern aus Kalifornien.
Auch dass Hublot (eine andere Uhrenmarke, für die er verantwortlich ist) an einem smarten Armband für mechanische Uhren arbeitet, kündet er an, und dass die nächste TAG-Heuer-Smartwatch Ende 2018 kommt, gleich auch noch. Darauf angesprochen, sagt er: «Ich nehme den Kunden ernst. So hat er auch die Möglichkeit, noch zwei Jahre zu warten.»
Bei Geräten, die man als Kunde selber umbauen und neu kombinieren kann, bin ich immer skeptisch.
Dann zeigt er mir die neue Uhr namens Modular 45 (ab 1650 Franken). Schon vor Wochen machten Gerüchte die Runde, die neue TAG-Heuer-Uhr könnte auf austauschbare Module setzen. Bei Geräten, die man als Kunde selber umbauen und neu kombinieren kann, bin ich immer skeptisch. Auf dem Papier klingt es gut, doch im Alltag und an der Ladenkasse ist dann meist Schluss.
Das letzte prominente Beispiel war das LG G5. Ein Handy mit allerhand Zusatzmodulen wie Austauschkamera, Audiomodul oder Extraakku. Nach nur einem Jahr wurde das Konzept mangels Erfolgs wieder eingestellt.
Das modulare Konzept von TAG Heuer setzt dagegen vor allem auf Design. So kann man Armbänder, Verschlüsse und Anstösse (der Teil der Uhr, an dem das Armband befestigt ist) in verschiedenen Farben und Materialien wie Titan, Keramik, Gold oder sogar mit Diamanten wählen. Insgesamt seien so 56 Varianten möglich.
Nach ein paar Versuchen habe ich den Dreh raus und kann von den Anstössen bis zur Schliesse das komplette Armband zerlegen und neu kombinieren. Bei meiner nicht ganz billigen mechanischen Uhr brauche ich, nur schon um das Armband zu wechseln, ein spezielles Werkzeug, Geschick, Geduld und gutes Licht.
Den Hinweis, dass Apple mit einfach zu wechselnden Armbändern hier Vater des Gedankens war, lässt Jean-Claude Biver nicht gelten. Mit seiner anderen Uhrenmarke Hublot mache er das schon viel länger.
Ein Trumpf im Ärmel
Im Gegensatz zu Apple und anderen Techkonzernen hat TAG Heuer aber noch einen Trumpf im Ärmel. Das modulare Konzept wird auch gleich auf mechanische Uhren verschiedener Preisklassen ausgeweitet. Auch die kann man mit denselben Armbändern und Anstössen kombinieren. Als Beispiel nennt Biver einen Opernbesuch. Da könne er die Smartwatch ausklipsen und eine mechanische am selben Armband befestigen.
Um das zu verdeutlichen, gibt es sogar ein spezielles Set-Angebot: eine Smartwatch und eine Luxusuhr mit Tourbillon für 16'650 Franken. Auch wenn sich das kaum jemand leisten kann, ist es doch ein Hingucker und dürfte für Schlagzeilen sorgen. Bei dem Preis kann man sich freilich fragen, ob man nicht lieber gleich zwei komplette Uhren kauft, statt immer erst Bänder und Anstösse zu tauschen.
Während ich mir die Uhren anschaue, fällt mir auf, dass ein Pulssensor fehlt. Die seien am Handgelenk einfach zu wenig präzise, erklärt Biver. Dieselbe Begründung habe ich auch schon beim Zürcher Medtech-Start-up Biovotion gehört. Die messen darum am Oberarm.
Trotzdem erinnert mich die Diskussion immer wieder an die ersten Handykameras. Auch die waren nicht annähernd so gut wie eine Spiegelreflexkamera und haben sich trotzdem durchgesetzt. Abseits von medizinischen Messungen könnte ein Pulssensor am Handgelenk für Schlaftracking, Gelegenheitssportler oder das Erkennen des Trägers durchaus seinen Platz haben.
Ein paar Schritte vom Chefbüro
Damit ist es höchste Zeit, die neue Produktionsstrasse zu besichtigen. Schliesslich ist der Kalender des TAG-Heuer-Chefs nur ein paar Tage vor der Lancierung der neuen Uhr und so kurz vor der wichtigsten Uhrenmesse übervoll. Die neue Produktionsstätte ist tatsächlich nur ein paar Schritte vom Chefbüro entfernt. Hinter Glasfenstern sieht man schon vom Gang aus die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren schwarzen Labormänteln.
Doch bevor man den Raum betreten kann, muss man durch eine Schleuse und selbst einen Labormantel anziehen. Ordnung muss sein, denke ich mir. Doch, sagt Biver, man habe von Intel gelernt, dass man im Umgang mit Smartwatches speziell vorsichtig sein müsse. Darum seien Decke und Boden speziell isoliert, und darum brauche es die Labormäntel.
In der Produktionsstrasse selbst werden die neuen Uhren zusammengesetzt, verschlossen und getestet. Dabei muss man wissen, das Herstellen einer solchen Smartwatch ist nicht weniger komplex als das einer mechanischen Uhr. Erst wird das Gehäuse in einer speziellen Fabrik von TAG Heuer hergestellt, dann geht es zu Intel. Dort wird die Elektronik eingesetzt. Schliesslich gelangt das Gehäuse mit Bildschirm nach La Chaux-de-Fonds, wo die Uhr fertig zusammengesetzt wird.
Von Intel gelernt
An einer Stelle der Produktionsstrasse wird zum Beispiel die Lünette auf das Gehäuse gepresst. An einer anderen werden WLAN- und Bluetooth-Einstellungen vorgenommen, und die Uhr wird anschliessend getestet. Zum Testen liegen mehrere Smartphones bereit.
So ähnlich sieht es auch bei Start-ups und Unternehmen aus, die ihre Apps für verschiedene Handys optimieren wollen. Alles, so wird mir erklärt, seien Arbeitsschritte, die zuvor Intel gemacht habe und die nun erstmals selbst erledigt werden könnten. Obwohl das Wochenende näherrückt, wird immer noch emsig gearbeitet.
Ob es am anwesenden Journalisten oder dem unmittelbar bevorstehenden Verkaufsstart liegt? Auf jeden Fall fällt auf, dass nicht alle Plätze besetzt sind und es in der hinteren Hälfte des Raums mehrere Arbeitsplätze hat, die nicht eingerichtet sind. Die kämen erst zum Einsatz, wenn sie mit einer Uhr nicht zufrieden seien, erklärt eine Managerin.
Sollte die neue Uhr ein Erfolg werden, ist TAG Heuer aber sicher froh um die zusätzlichen Arbeitsstationen. Aktuell habe er mit der neuen Produktionsstrasse 50 neue Stellen geschaffen, erzählt Jean-Claude Biver. Bis Ende Jahr, hofft er, würden es 100 sein.
Bond zum Omega-Fan gemacht
Doch wie hoch ist der praktische Nutzen, das nun in der eigenen Fabrik erledigen zu können, und wie viel davon ist dem Marketing geschuldet? Man erinnere sich: Jean-Claude Biver macht in Sachen Marketing keiner so schnell etwas vor. Ihm ist es schliesslich zu verdanken, dass James Bond zum Omega-Träger wurde.
Einerseits sei man dank der eigenen Produktionsstrasse flexibler, könne leichter mit den Leuten sprechen, und Prozesse gingen schneller, erklärt Biver. Aber natürlich erlaube es ihm nun auch, «Swiss made» auf die neue Uhr zu schreiben. Ob das Herkunftslabel bei Smartwatches Ähnliches bewirkt wie bei mechanischen Uhren, muss sich aber erst noch zeigen.
So unterscheidet sich das Uhrental vom Silicon-Tal: Hier planen kluge Köpfe nicht nur, sie produzieren auch.
Sollte TAG Heuer in naher Zukunft vielleicht auch noch die Elektronik selber und ohne die Hilfe von Intel zusammensetzen und einbauen, wäre das sicher noch spektakulärer. Aber schon heute ist es ein deutliches Zeichen, dass TAG Heuer nicht nur mit der neuen Technologie experimentiert, sondern darauf setzt. Und damit ist TAG Heuer etwas gelungen, was im Silicon Valley nur selten bis nie passiert. Während die dortigen Firmen ihre Produkte in China bauen und zusammensetzen lassen, macht TAG Heuer das vor Ort. Und so unterscheidet sich das Uhrental eben doch vom Silicon-Tal. Hier planen die klugen Köpfe nicht nur, sie stellen es auch selber her.
Auf dem Heimweg gibt es dann doch noch eine letzte Parallele zum Silicon Valley. Der Buschauffeur erklärt mir freundlich, dass ich in den Cartier-Mitarbeiter-Bus gestiegen sei. Wenn ich nicht in die Fabrik wolle, müsse ich auf den nächsten Bus warten. Wie in San Francisco gibt es also auch hier Firmenbusse. Und während ich mit dem richtigen Bus an den Uhrenfabriken vorbei zum Bahnhof fahre, frage ich mich, was eigentlich die anderen Schweizer Uhrenkonzerne hinter verschlossenen Türen für Experimente machen.
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So baut TAG Heuer die Swiss-made-Smartwatch
Die neue Uhr wird in La Chaux-de-Fonds zusammengesetzt. Redaktion Tamedia konnte dabei zuschauen.