So hat der Vormensch wohl ausgesehen
Wissenschaftler finden einen fast vollständigen Schädel des ältesten Vorfahren von Homo sapiens. Erstmals lässt sich rekonstruieren, wie Australopithecus anamensis ausgesehen hat.

Man weiss nicht genau, wie Ali Bereino das Gesicht entdeckt hat – ob der Arbeiter im Februar 2016 danach gesucht hatte oder ob er über den versteinerten Knochen buchstäblich stolperte. Fest steht, dass sich kurz nach seinem Fund in der unwirtlichen Trockenheit der äthiopischen Afar-Region ein Forscherteam durch 30 Zentimeter Staub siebte.
Bald war der hintere Teil der Schädeldecke gesichtet, nach und nach tauchten das linke Jochbein, der Oberkiefer und weitere Fragmente auf. Schliesslich hatten die Wissenschaftler ihr Puzzle fast komplett. Es ergibt den Schädel eines Vormenschen, der vor 3,8 Millionen Jahren lebte und zur bereits aufrecht gehenden Art Australopithecus anamensis, zu Deutsch «südlicher Affe vom See», gehört.
Wichtige Evolutionsstufe
Das internationale Team um den äthiopischen Paläoanthropologen Yohannes Haile-Selassie berichtet nun in zwei Studien der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsjournals «Nature» über den Schädel, der derart vollständig ist, dass sich die Wissenschaftler erstmals und im Wortsinn ein Bild von Australopithecus anamensis machen können, dem ältesten bekannten Mitglied in der direkten Ahnenreihe des Menschen. So ist es den Forschern mithilfe des Fundes gelungen, ein überraschend realistisches Phantombild des Affenmenschen anfertigen zu lassen. Während das Bild für Laien wohl schlicht affenähnlich wirkt, ist es für Forscher der erste Blick ins Antlitz einer vermutlich entscheidenden Evolutionsstufe des Menschen.

Für die Forschung zur Evolution menschlicher Vorfahren ist der Schädel aber nicht nur wegen der Optik ein ziemlich grosser Coup. Bislang waren von der seit Millionen von Jahren ausgestorbenen Homininen-Art nämlich lediglich Knochenfragmente und Zähne gefunden worden. Aus diesen Funden liess sich zwar schliessen, dass es sich um Relikte einer zuvor unbekannten Australopithecus-Art handelte, die noch älter sein musste als Australopithecus afarensis, der «südliche Affe aus Afar».
Der neue Fund wird das Bild vom Stammbaum der frühen Vormenschen stark beeinflussen.
Meave Leakey, neben ihrem Ehemann Richard eine der bedeutendsten Paläoanthropologen der Gegenwart, beschrieb die neue Art 1995 zum ersten Mal. Doch welche Eigenheiten dieser Vormensch besass, wie er gelebt und ausgesehen hatte, blieb genauso unbekannt wie die Antwort auf die Frage, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er zu anderen Vertretern seiner Gattung stand. Man ging aufgrund des Alters bisheriger Funde zunächst davon aus, dass Australopithecus anamensis ein direkter Vorfahre von Australopithecus afarensis gewesen sein musste, war sich dessen aufgrund der Zahnstrukturen aber auch nicht wirklich sicher.
Der neue Fund, der MRD genannt wird, mehrt die Zweifel an der direkten Abstammung und verweist eher auf eine stärkere Verzweigung und Komplexität des homininen Stammbaums. «Unsere Entdeckung deutet darauf hin, dass die beiden Arten tatsächlich eine ganze Weile lang in der Afar-Region zusammengelebt haben», sagt Stephanie Melillo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, die an beiden Studien beteiligt war.
Einzigartige Entdeckung
Demnach könnte die Koexistenz mindestens 100'000 Jahre gedauert haben. «Das verändert unser Verständnis des evolutionären Prozesses und wirft neue Fragen auf: Konkurrierten diese beiden Arten um Nahrung oder Lebensraum?» Denkbar ist ausserdem, dass sich beide Arten mischten, was inzwischen auch für Vertreter späterer Gattungen der Hominini angenommen wird, bis hin zur frühen Evolution des Homo sapiens. «Bei MRD finden sich sowohl einfache als auch komplexere Gesichts- und Schädelmerkmale, die ich in dieser Kombination nicht erwartet hatte», sagt Haile-Selassie in einer Mitteilung des Leipziger Max-Planck-Instituts.
Wie die Forscher aus Analysen der Bodenschichten schliessen, in denen die Schädelfragmente und zahlreiche Pflanzenreste gefunden wurden, lebte MRD in der Nähe eines Sees. Die Gegend muss aber damals schon recht trocken gewesen sein und nur teilweise bewaldet.

Weitere Studien sollen mehr über die Bedingungen herausfinden, die zu Lebzeiten des mutmasslichen männlichen Vertreters von A. anamensis herrschten. Sie könnten helfen zu klären, wann und wie auch dieser frühe Ahn des Menschen schliesslich von der Bildfläche verschwand. «MRD ist eine grossartige Erweiterung der fossilen Belege menschlicher Evolution», schreibt der Paläoforscher Fred Spoor vom National History Museum in London in einem Kommentar zu den neuen Studien.
«Die Entdeckung wird unser Bild vom Familienstammbaum der frühen Vormenschen stark beeinflussen.» Ausserdem zeige die aktuelle Arbeit, wie bedeutsam einzelne Funde für die Paläontologie seien. «Daran sollten wir uns erinnern, wenn wir für unsere Begeisterung über eine einzige Probenzahl verwunderte Blicke von Kollegen aus den experimentellen Biowissenschaften ernten.»
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