So meisterte die Schweiz frühere Energiekrisen
Vor 100 Jahren stand die Schweiz bezüglich Energieversorgung am Scheideweg. Der Umbau war wirtschaftlich unvernünftig – und erwies sich doch als richtig.

Energiekonsum in der Schweiz

Wenn es um grosse Fragen geht, blickt man gerne in die Vergangenheit zurück. Wie haben es unsere Grossväter und Urgrossväter gemacht? Bei der Volksabstimmung in zehn Tagen geht es um eine Weichenstellung in der Energieversorgung: Einem dezentralen Energiesystem, das vor allem auf Elektrizität aus erneuerbaren Energiequellen setzt, stehen Atomstrom und fossile Energie gegenüber. Schon einmal musste sich die Schweiz entscheiden, welchen Weg sie nehmen will: Kohle oder Wasserkraft. Das war vor hundert Jahren, nach der grössten Energiekrise des Landes.
Der Berner Umwelthistoriker Christian Pfister hat zusammen mit Kollegen der Universität Bern die Energiemisere der Schweiz im Ersten Weltkrieg akribisch aufgearbeitet. Es ist die Geschichte einer Entwicklung, die damals niemand vorhersehen konnte – oder wollte. Sie beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts: An künftige Krisenzeiten denkt niemand, es ist der Beginn der Industrialisierung. So ist auch die zunehmende Abhängigkeit von Kohle aus Deutschland bis Ende des 19. Jahrhunderts kein Thema. Kohle steht für Fortschritt, sie ist das energetische Rückgrat für den Aufbau der heutigen Industrie: Metall- und Maschinenindustrie, Fahrzeugbau, Chemische Industrie, Nahrungsmittelindustrie – sie alle benötigen Prozesswärme. «Mit der Eröffnung des Hauensteintunnels zwischen Olten und dem basellandschaftlichen Läufelfingen am 1. Mai 1858 begann das Zeitalter der fossilen Energie», schreibt Christian Pfister im Buch «Woche für Woche neue Preisaufschläge», das Ende letzten Jahres erschienen ist.
Direkte Linie zur Kohlegrube
Zuvor ist die Schweizer Energieversorgung praktisch autark. 90 Prozent der Primärenergie stammen von der Holzverbrennung. Mit dem Kohleabbau und dem Aufbau der Eisenbahn wird in Europa die Industrialisierung beschleunigt. Auch in der Schweiz. Der Hauensteinbahntunnel eröffnet eine Transportlinie vom Mittelland nach Basel und weiter über das oberrheinische Eisenbahnnetz bis zu den deutschen Kohlegruben der Saar und der Ruhr.
Mit Kohle laufen Eisenbahnen, Dampfschiffe und Fabriken, Kohlegas kommt vor allem bei der Beleuchtung in den Städten zum Einsatz. Zentralheizungen in städtischen Häusern verfeuern Koks. Mit der Entwicklung erster elektrischer Netze in den USA wird elektrischer Strom auch in der Schweiz allmählich ein Thema. Ende des 19. Jahrhunderts wechseln manche Städte vom Gaslicht auf die elektrische Glühlampe. Kleine Wasserkraftwerke produzieren dabei den Strom, der aber nur kleinräumig zur Verfügung steht. Als Strom auch über weite Strecken transportierbar wird, entstehen in den 1890er-Jahren an den Flüssen erste Laufkraftwerke.
«Deutschland begann, uns zu erpressen»
Gesamthaft spielt Elektrizität vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz aber keine Rolle. Das Land importiert 90 Prozent der Kohle aus Deutschland, der Rest stammt aus Frankreich und Belgien. Das geht im ersten Jahr nach Kriegsausbruch am 28. Juli 1914 noch gut, weil Deutschland auf Devisen angewiesen ist. Doch ein Jahr später ändert sich das, weil es nicht der von den Deutschen erwartete schnelle Krieg wird und sich ein Wirtschaftskrieg entwickelt. «Deutschland begann, uns zu erpressen», sagt Christian Pfister. Berlin verlangt etwa von der Schweiz eine zentrale Behörde, welche die importierte Kohle so verteilt, dass die deutsche Energie nicht für feindliche Rüstungsprodukte eingesetzt wird. Deutschland liefert Kohle nur noch gegen Kreditleistungen der Schweiz. Weil ein neutraler Staat sich nicht auf solche Händel einlassen darf, finanzieren Schweizer Banken die Kredite.
Auch Deutschland selbst leidet allmählich an Kohlenot, entsprechend nimmt der Import ab. Ab August 1918 sind in der Schweiz alle Brennstoffe rationiert. Die Schweizer Regierung zahlt für eine Tonne deutsche Kohle auf heute umgerechnet 3280 Franken: Das ist das Sechs- bis Siebenfache des deutschen Inlandpreises. Hinzu kommt, dass die ersten Monate im Jahr 1917 und der Dezember 1918 zu den kältesten gehören seit Beginn der Temperaturmessungen 1864.
Berner Pioniere
Die Bevölkerung leidet unter der Energiekrise. «In den städtischen Mietskasernen schlotterten die Bewohner nicht nur in ihren schlecht geheizten Wohnungen, sie mussten auch kalt essen», schreibt Pfister. Arme können sich Kohle nicht mehr leisten. Zweieinhalbmal weniger Personenzüge verkehren auf dem Bahnnetz. An Sonntagen fahren keine mit Dampf betriebenen Eisenbahnen mehr. Die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn fährt jedoch nach Fahrplan, selbst im kohleärmsten Winter 1918/19: Sie ist die erste elektrische Gebirgsbahn der Welt. «Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war sich die Bevölkerung bewusst, dass sich etwas in der Energieversorgung ändern musste», sagt Pfister.
Dank der Kohleknappheit wird die elektrische Beleuchtung marktreif. Schon während des Krieges steigt die Zahl der Elektroherde von 1000 auf 24'000. Der Bau von Laufkraftwerken wird zwischen 1918 und 1920 forciert. Einzig die SBB hält sich zurück. Eine Elektrifizierung des Bahnnetzes wird als zu teuer eingestuft. «Die Eröffnung der elektrischen Gebirgsbahn am Lötschberg hat sie davon überzeugt, dass eine Elektrifizierung technisch machbar ist», sagt Pfister. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 sind knapp vier Fünftel des Schienennetzes elektrifiziert.
«Der Kopf sagt Ja, der Bauch Nein»
In der Nachsicht der Historiker war der radikale Umbau wirtschaftlich unvernünftig. Trotzdem erweist sich der Entscheid als Vorteil: Als im Zweiten Weltkrieg in Europa die Versorgung mit fossilen Brennstoffen erneut zusammenbricht, ist die Abhängigkeit der Schweiz von Deutschland weit geringer: Die Stromproduktion durch Wasserkraft hat sich durchgesetzt.
Heute ist die Schweizer Energieversorgung wieder zum grössten Teil vom Ausland abhängig, weil der Konsum von Erdöl und Gas im letzten halben Jahrhundert stark zugenommen hat. Zudem will die Schweiz aus der Kernkraft aussteigen. «In diesem Sinn herrscht auch heute ein grosser Druck auf die Politik, doch der Kopf sagt heute Ja zu einem Richtungswechsel, der Bauch jedoch Nein», so Pfister. Seine Begründung: «Die letzte Erdölkrise 1973 war eigentlich nur eine Pseudokrise, die nicht richtig wehtat. Bis jetzt sind wir immer davongekommen.»
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