So stylish sind die Siegerfilme in Locarno selten
Ein Thriller aus Singapur gewinnt am Filmfestival Locarno. Das passt zum Ende der Ära Chatrian.

Ein Siegerfilm für die Zeit der Simulationen: «A Land Imagined» aus Yeo Siew Hua ist ein atmosphärischer Thriller aus Singapur – im Cybercafe, in dem sich der chinesische Gastarbeiter Wang die Zeit vertreibt, fluoreszieren die Maschinen grün und blau. Nach einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle beginnt Wang, mit einem Gamer zu chatten und verschwindet auf einmal, weshalb sich ein schlafloser Polizist auf die Suche nach ihm macht.
Damit ist erst unzulänglich beschrieben, auf welch rätselhaft hypnotische Art der Regisseur die Traumzustände der Figuren mit dem Grossprojekt der Landgewinnung in Singapur verbindet: Wo Meer war, entsteht Erde, aufgeschüttet von Billigarbeitern aus China und Bangladesh. Eine konstruierte Moderne auf schwankendem Boden. Wie die Games, die Wang im Cybercafe spielt, eine Techno-Fantasie, die dauernd neue Formen annimmt. Ein starker Goldener Leopard, dieser Neon-Noir für eine Zeit der masslosen Simulationen.
Den Spezialpreis vergibt die vom chinesischen Regisseur Jia Zhangke angeführte Jury heute Samstagabend an die Französin Yolande Zauberman, die in «M» ein Vergewaltigungsopfer begleitet, das an den Tatort zurückkehrt: Bnei Berak, Zentrum der Ultraorthodoxen in Israel. Mit Menahem Lang hat sie einen ausserordentlichen Protagonisten gefunden: Er erzählt jedem, sein Rabbiner habe ihn vergewaltigt, manchmal sagt er es zur Begrüssung. Ein schonungsloses Bekenntnis, das auch die Strukturen eines repressiven Systems im Blick hat.
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Die Ära Carlo Chatrian
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Den Regiepreis erhält Dominga Sotomayor aus Chile für ihr Adoleszenzdrama «Tarde para morir joven»; geehrt werden auch Darsteller aus «Alice T.» des Rumänen Radu Muntean und «Gangbyun Hotel» von Hong Sangsoo aus Korea. Besonders erwähnt wird die Kitchen-Sink-Hommage «Ray & Liz» des Briten Richard Billingham. Der Publikumspreis geht an Spike Lees «BlacKkKlansman»; Bettina Oberli erhält den Variety Award für «Le vent tourne».
«La flor» 2019 im Kino
Um den Elefanten im Raum ist die Jury gut herumgekommen: Der knapp 14-stündige Spielfilm «La flor» des Argentiniers Mariano Llinás erwies sich als verspielte Reflexion über Liebe und künstlerische Schöpfung, mit viel Text und Musik. Einen Preis gibts keinen, aber dafür will der Trigon-Verleih den Brocken 2019 in einige Kinos bringen. Wie genau, das schaue man jetzt mal.
Dass der Hauptpreis nach Singapur geht, passt zur Ära von Carlo Chatrian, der Locarno Richtung Berlinale verlässt. Vier von sechs Siegerfilmen aus seiner Zeit stammen aus Asien. Chatrian wird nicht nur als Fürsprecher des asiatischen und amerikanischen Indie-Kinos in Erinnerung bleiben, sondern überhaupt als Spürnase für kompromisslos Ungewohntes. Wer auf ihn folgt, wird man Ende August erfahren.
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