So trainiert eine Weltklasse-Athletin
Marit Björgen ist die erfolgreichste Wintersportlerin je. Wissenschaftlern hat die Langläuferin nun sämtliche Trainingsdaten offengelegt.

Marit Björgen hat nichts zu verstecken – und damit für eine wegweisende Arbeit norwegischer Sportwissenschaftler gesorgt: Alle ihre Trainings der Jahre 2000 bis 2017 hat sie ihnen sichtbar gemacht und sich von ihnen in regelmässigen Abständen auch auf Herz und Nieren prüfen lassen. Herausgekommen ist die umfassendste Vermessungsstudie zu einer Athletin ihres Formats: Mit 15 Olympiamedaillen, davon acht goldenen, ist die 38-jährige Langläuferin die erfolgreichste Wintersportlerin je. Nie holte eine Frau oder ein Mann am wichtigsten Grossanlass im Winter mehr Medaillen.

Dass Björgen derart bereitwillig in dieses Langzeitprojekt einwilligte, überraschte Studienleiter Øyvind Sandbakk kein bisschen. Der Professor für Bewegungswissenschaften an der Universität Trondheim (NTNU) sagt: «Marit ist ein sehr offener Typ.» Anhand der Daten ist Sandbakk darum «sehr sicher», dass Björgen alle ihre Medaillen und 114 Weltcupsiege – ein weiterer Rekord – ohne Manipulationen erreicht hat. Zumindest würden die Langzeitdaten nicht den geringsten Hinweis auf Doping liefern, sagt der 37-jährige Sandbakk. Er gilt als führender Langlauf-Spezialist.
Was die Daten auf den ersten Blick offenbaren: Björgen malochte für ihre Erfolge. In ihren besten Jahren trainierte sie 950 Stunden, kam im Schnitt auf elf Trainings pro Woche über 365 Tage. Damit erreicht Björgen Umfänge, wie sie selbst ein Dario Cologna maximal zu Spitzenzeiten hinter sich bringt. Aber: Björgen ist im norwegischen Langlauf-Nationalteam der Frauen keineswegs die Einzige, die solche horrenden Stundenzahlen sammelt – sondern Durchschnitt.

Damit sie diese Spitzen erträgt, steigerte die Bauerntochter den Umfang sukzessive. Trainierte sie mit 20 Jahren rund 500 Stunden, kam sie zehn Jahre danach auf rund 900. Diese kontinuierliche Progression im überschaubaren Mass trug wesentlich dazu bei, dass Björgen nie länger verletzungsbedingt pausieren musste. Entsprechend hat sie fast in allen ihren Weltcupsaisons seit 2000 mindestens einen Sieg pro Winter herausgelaufen – mit wenigen Ausnahmen, primär in ihren ersten Jahren nach der Nachwuchsphase. Eine davon ist zudem auf ihre Schwangerschaft in der Saison 2015/16 zurückzuführen.
Immer schön locker bleiben
Zu den überraschenden Erkenntnissen für Laien gehört die Verteilung der Intensitäten. Björgen trainiert vorwiegend in tiefem Pulsbereich von rund 75 Prozent ihres Maximums. Im Jahresschnitt absolviert sie rund 90 Prozent ihrer Ausdauereinheiten in gemächlichem Tempo, viele davon in einer Länge von mehr als zwei Stunden. Wer also glaubt, Spitzenathleten wie Björgen würden im Alltag permanent powern, irrt. Björgen reduzierte mit den Jahren den Anteil an mittleren und harten Trainings gar, womit sich die Balance noch extremer Richtung lockerer Einheiten verschob. Das kontinuierliche Steigern des (lockeren) Ausdauervolumens führte bei Björgen zu einer verbesserten Laufökonomie. Das heisst, sie lief mit den Jahren immer effizienter und konnte ihre maximale Sauerstoffaufnahme besser ausnützen.

Die Konsequenz: Die meisten Medaillen an internationalen Meisterschaften sammelte Björgen, nachdem sie bereits zahlreiche Trainingsjahre hinter sich hatte. Natürlich gehören weitere Faktoren für den grossen Erfolg von Björgen rund um das 30. Lebensalter dazu, die verbesserten körperlichen Eigenschaften aber bilden wohl die Grundlage.

Ihre sukzessive Arbeit ohne längere Pausen erklärt auch, warum Björgen nach ihrer Babypause in der Saison 2015/16 fast ab dem Moment der Rückkehr in den Weltcup wieder konkurrenzfähig war: Sie hatte sich über die Jahre eine derart umfassende Basis in allen Bereichen aufgebaut und auch fast bis zur Geburt ihres Buben Marius weitertrainiert, dass sie das Defizit der kurzen Pause nach der Niederkunft innert weniger Monate kompensiert hatte.
Trotz der umfassenden Vermessung von Björgen lassen sich für andere Athletinnen oder Athleten daraus kaum Erkenntnisse ableiten. Denn was für Björgen funktioniert, muss für andere nicht zwingend richtig sein. Wobei sich eine unübersehbare Tendenz des modernen Ausdauersports auch bei Björgen zeigt: Die Verteilung der Intensitäten beträgt nach Prozenten ungefähr 90/5/5. Die Hobbysportler können daraus ableiten, dass sie viel zu hart trainieren, weil viele von ihnen eher ein Verhältnis von 1/1 bezüglich locker/hart aufweisen. Aber ihr Ziel ist es ja auch nicht, möglichst viele Olympiamedaillen zu ergattern.

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