So viel Widerstand gegen die SBB gab es noch nie
In Zürich haben die Bundesbahnen mit Grossprojekten nach und nach die Stadt verändert. Nun steigt der Druck.

«Bitte keine zweite Europaallee!» Auf diese Losung können sich die meisten linken Zürcher einigen. Auch Marco Denoth, Co-Präsident der städtischen SP, liess sich schon so zitieren. Unter städtischen Alternativen geniessen die SBB mit ihren Bauprojekten etwa so viel Sympathie wie eine Grossbank. Die Bundesbahnen hätten zu wenige, dafür zu teure Wohnungen gebaut, heisst es.
Auf diese SBB-Skepsis setzt der Verein Noigass, der gestern seine städtische Volksinitiative vorstellte. Der Verein, im Sommer von Quartierbewohnern und linken Politikern gegründet, will die vergangenen «Sünden» der SBB wiedergutmachen. Seine Forderung: den Anteil gemeinnütziger Wohnungen auf dem Neugasse-Areal im Kreis 5 bei 100 Prozent festsetzen. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die Stadt das 30 000 Quadratmeter grosse Grundstück zwischen den Bahngeleisen und der Neugasse gleich selber kaufen – oder, falls das nicht geht, im Baurecht übernehmen. So will es die entsprechende Initiative. «Der Stadtrat muss nochmals mit den SBB verhandeln», sagt Res Keller, Präsident des Vereins Noigass. Der jetzige Gestaltungsplan erhalte vom Gemeinderat und der Stadtbevölkerung kaum Zustimmung. Und die Vergangenheit zeige, dass sich die SBB nur unter politischem Druck bewegten.
SP war einst für die Europaallee
In den vergangenen Jahren hat die Immobilienabteilung der SBB mitten in Zürich eine Kleinstadt neu errichtet. Rechts und links des Gleisstrangs zog sie Siedlung an Siedlung hoch, insgesamt sind es über 1400 Wohnungen, dazu weit über 100 000 Quadratmeter Büround Gewerbefläche. Allein in der Europaallee werden am Ende 8000 Menschen arbeiten und fast 5000 studieren.
Das grosse Bauen neben dem HB begann vor über zehn Jahren. Damals hiess das Projekt Stadtraum HB, gemässigte Zürcher Linke waren ihm gegenüber positiv gesinnt. So stimmten die städtischen Sozialdemokraten der nötigen Umzonung fast einstimmig zu. Gegen die SBB-Pläne wehrte sich einzig die Alternative Liste (AL). Sie ergriff das Referendum, das die Zürcherinnen und Zürcher im Sommer 2006 mit rund 65 Prozent ablehnten. Damals galt in Zürich: Man muss froh sein, wenn Private investieren und Wachstum bringen.
Bilder: Initiative gegen SBB-Projekt lanciert
Doch bald gerieten die SBB und die Stadt aneinander. 2009 kritisierte die bürgerliche Hochbauvorsteherin Kathrin Martelli (FDP) die Bundesbahnen, wobei sie Ähnliches bemängelte wie die AL: Die SBB achteten zu stark auf ihre Profitmaximierung, dabei vernachlässigten sie den öffentlichen Raum und die soziale Durchmischung. Nun begann der Stadtrat in den Verhandlungen um die weiteren Neubaugebiete, mehr Druck zu machen. Einen ersten Erfolg erzielte er auf dem Areal an der Zollstrasse im Kreis 5. Davon gehörte der Stadt ein kleiner, aber wichtiger Flecken Land. Dank diesem Pfand konnte der Stadtrat einen Teil des Areals von den SBB günstig erwerben. Das Baurecht erhielt die Genossenschaft Kalkbreite, sie entwickelt dort eine Siedlung für etwa 175 Menschen.
Fast gleichzeitig kaufte die Stadt Zürich in Altstetten den SBB Boden zu einem ebenfalls vorteilhaften Preis ab. Auf dem Grundstück Letzibach D erstellen nun mehrere gemeinnützige Anbieter 250 Wohnungen. In der Nähe hatte die Stadt den SBB im Vorfeld Land abgetreten, damit diese ihre Überbauung Westlink realisieren konnten.
Die Kritik an den Bundesbahnen und dem Stadtrat verstummte trotzdem nicht. Der Grund: die zwei Hochhäuser, welche die SBB derzeit unmittelbar neben dem Bahnhof Oerlikon errichten. Im Franklin- und im Andreasturm entstehen ausschliesslich Büroflächen, zusammen sind es über 33 000 Quadratmeter. Der Gemeinderat konnte bei den nötigen Umzonungen nicht mitreden. Die Alternative Liste sprach von «baurechtlichen Winkelzügen», mit denen die SBB eine maximale Ausnutzung herausholten.
SBB sind stolz auf Vergangenheit
Auf Kritik reagierten die SBB, indem sie ihre Tradition im gemeinnützigen Wohnungsbau betonten und sich gegen den Vorwurf wehrten, nur unter politischem Druck zu handeln. Nach eigenen Angaben haben sie in der Stadt ihre Böden für über 1200 günstige oder gemeinnützige Wohnungen zur Verfügung gestellt – mitgerechnet sind auch sehr alte Siedlungen.
Die Bilanz der vergangenen zehn Jahre sieht anders aus: Den Gleisstrang entlang werden fast drei Viertel aller neuen SBB-Wohnungen zu Marktpreisen verkauft oder vermietet. Die entspricht knapp dem städtischen Durchschnitt.

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Dem Verein Noigass ist das zu wenig, besonders im teuren Kreis 5. Um das Ziel von einem Drittel gemeinnützigen Wohnungen zu erreichen, das die Zürcher 2011 an der Urne festlegten, brauche es dort einen grösseren Effort. Der Gesamtstadtrat hingegen stehe weiterhin hinter dem bisherigen Projekt, sagt ein Sprecher. Es umfasst Wohnungen für rund 900 Personen, ein Drittel davon gemeinnützig. Die SBB betonen ausserdem, geplant sei ein vielfältiger und ökologischer Stadtteil. Noch nie habe sich die Zürcher Bevölkerung in einem partizipativen Prozess so stark einbringen können. Politische Unterstützung gibt es von den Bürgerlichen.
In Vevey passiert nun gar nichts
Die entscheidenden Fragen aber lauten: Was würden die SBB nach einem Ja zur Initiative tun? Verkaufen oder nicht? Dafür haben Gegner und Befürworter gegensätzliche Beispiele parat.
Den realistischen Preis für das Neugasse-Areal schätzen die Initianten auf ungefähr 60 Millionen Franken.
In Vevey versenkte die Bevölkerung vor einem Jahr ein SBB-Neubauprojekt mit 350 Wohnungen. Die Kritik lautete: zu hoch, zu viele Parkplätze, zu wenig günstige Wohnungen. Statt die Pläne nach dem Volks-Nein anzupassen, lassen die SBB das Areal nun für mindestens zehn Jahre ruhen. Auch in Basel haben die SBB angekündet, ein riesiges Grundstück (Lysbüchel) «mit einem Zaun zu sichern und als Brache zu bewirtschaften», falls ihr gewünschtes Projekt politisch scheitere. Einen Verkauf schlossen die SBB dort aus. Eine solche Blockade drohe auch an der Neugasse, befürchten Gegner der Initiative.
Diese Drohung habe man von den Bundesbahnen auch schon zu hören bekommen, sagen die Initianten. Sie hoffen aber darauf, dass sich die SBB eine solche Blockade aus wirtschaftlichen Überlegungen nicht erlauben könnten. Dabei verweisen sie auf ein Beispiel aus Genf. Dort stemmen die Bundesbahnen ein Grossprojekt à la Europaallee, das Adret Pont-Rouge, wo der Kanton ein fast doppelt so grosses Areal wie die Neugasse für 33 Millionen Franken kaufen konnte. Für das Grundstück im Kreis 5 rechnen die Initianten mit einem Preis von rund 60 Millionen Franken.
SBB-Sprecher Daniele Pallecchi beantwortet die Frage so: «Die SBB wollen Eigentümerin des Areals Neugasse bleiben und sind an einer wirtschaftlichen Entwicklung interessiert.»
Im Gegensatz zur Abstimmung über den Stadtraum HB hat die Noigass-Initiative intakte Chancen. Denn dieses Mal bekommt die AL wohl die Unterstützung der Sozialdemokraten. Bei früheren Vorlagen hat sich die SP meist auf die Seite der SBB und der Stadt gestellt, auch weil die Partei die Beschlüsse ihrer eigenen Stadträte nicht bekämpfen wollte. Damit die Initiative gültig wird, muss der Verein innert sechs Monate insgesamt 3000 Unterschriften sammeln. Eine kleine Hürde. Im November haben die Aktivisten bereits eine Petition bei der Stadt und den SBB eingereicht – mit 8000 Unterschriften.
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Video: Der Tagi-Talk «Politbüro Züri» zur Stadtratswahl
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