Software überführt radikale Schüler
Mit einem Frühwarnsystem sollen Lehrer potenzielle Islamisten entlarven. Alleine in der Stadt Zürich gingen bisher sechs Schüler ins Netz.

Der schlaksige Teenager fiel im Quartier kaum auf. Ein «guter Typ», sagen Nachbarn, «normal». Das änderte sich, nachdem Salman Abedi 2011 nach Libyen reiste. Plötzlich trug der junge Mann religiöse Gewänder, liess sich einen Bart wachsen. Auf der Strasse sang der 22-Jährige lautstark arabische Gebete, auf dem Dach seines Wohnhauses hisste er eine islamistische Flagge. Deutliche Anzeichen einer Radikalisierung – die aber niemand ernst nahm. Bis der Brite libyscher Abstammung am Montag in Manchester einen Sprengsatz zündete und 22 Menschen mit in den Tod riss. «Es gibt etliche Indikatoren, die eine Extremisierung anzeigen», sagt Daniele Lenzo. Der Leiter der Fachstelle Gewaltprävention der Stadt Zürich hat diese Faktoren gesammelt und in einem digitalen Fragebogen verarbeitet. Radicalisation-Profiling (Ra-Prof) heisst die Software. «Sie soll helfen, Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen», sagt Lenzo.
Konkret richtet sich das Instrument an Lehrer, Vereinstrainer oder Sozialarbeiter. Haben diese einen Jugendlichen im Verdacht, sich radikalisiert zu haben, können sie sich an die Fachstelle für Gewaltprävention wenden. Nach einem ersten Gespräch mit den Experten erhalten sie Zugang zum Online-Tool. Es enthält 46 Fragen. Zum Beispiel: «Sieht die Person die westliche Welt als Urheber aller Probleme?»,«Äussert die Person islamistische Parolen?», «Zeigt die Person sichtbare Veränderungen im Aussehen, etwa Verschleierung oder ungestutzter Bart?».
Polizei eingeschaltet
88 Personen haben den Fragebogen bisher ausgefüllt, dabei handelte es sich mehrheitlich um Lehrer. «In den meisten Fällen zeigte sich, dass die Jugendlichen einfach provozieren und die Grenzen austesten wollten», sagt Lenzo. In fünf Fällen lag das Problem bei den Erwachsenen, etwa weil sie die muslimischen Schüler wegen ihres Glaubens zu Unrecht verdächtigten. Aber in sechs Fällen bestätigte sich der Anfangsverdacht – und das allein in der Stadt Zürich. «Diese Jugendlichen haben sich tatsächlich radikalisiert», sagt Lezo. «In jenen Fällen haben wir die Polizei eingeschaltet.»
Solche Erfolge machten andere Behörden hellhörig. Das Schweizer Institut für Gewalteinschätzung (Sifg), welches für die Lizenz von Ra-Prof zuständig ist, verhandelt aktuell mit Fachleuten in Deutschland und Österreich. In der Schweiz setzen bereits 17 Fachstellen das Instrument ein, darunter jene in Winterthur, Basel, Bern und Zug. Die Zahlen der Verdachtsfälle sind noch tief, weil die Software zum Teil erst seit einigen Monaten im Einsatz ist. Bern etwa hatte bisher keine einzige Anfrage, der Kanton Zürich deren acht.
Laut dem Schweizer Lehrerverband sollten Gefährdungsmeldungen bei schulinternen Weiterbildungen unbedingt thematisiert werden. «Dazu gehört die Information an die Lehrerschaft, dass es diese Fachstellen mit diesem Tool gibt und sie sich dahin zu wenden haben, wenn sie einen erhärteten Verdacht haben», sagt Vizepräsidentin Marion Heidelberger. Sie bewertet das Instrument grundsätzlich positiv: «Es ist schwierig, in Klassen mit 24 Kindern aus 24 Familien mit 24 Wertesystemen einen Verdacht zu manifestieren. Da kann dieser Fragebogen eine Hilfe sein.»
Jede Gymi-Reise wird geprüft
Die Lehrer sollen aber nicht nur potenzielle Täter erkennen – sie müssen ihre Schüler auch vor solchen schützen. Diesbezüglich zeigt sich nach Anschlägen in Manchester, Paris, Nizza, Berlin und London: Die Schulen gehen bei Auslandreisen über die Bücher. An der Kantonsschule Freudenberg ZH überprüft ein Sicherheitsbeauftragter jede Reise, an der Kanti Baden gab es letztes Jahr aus Sicherheitsgründen keine Studienreisen nach Istanbul, das Berner Gymnasium Kirchenfeld verzichtete nach den Anschlägen in Paris auf eine Exkursion in die französische Hauptstadt. «Leider bestens vertraut» mit der Terrorgefahr ist man an der Kanti Zug, wie Rektor Peter Hörler sagt. «Wir hatten letztes Jahr während des Anschlags eine Klasse in Nizza. Bei einer anderen Klasse haben wir dann die Destination verschoben.»
Reagiert hat auch das Gymnasium St-Michel in Freiburg, nachdem eine Klasse im letzten Herbst nur knapp dem Attentat in Brüssel entkam. Die 20 Schüler und ihre Lehrer wollten in die Metro steigen, die auf den Zug folgte, in dem sich das Attentat ereignete. Inzwischen hat die Schule eine Checkliste erarbeitet, die festhält, dass für Auslandreisen nur «sichere Orte» gewählt werden.
Die Anschläge beeinflussen bereits die Planung der Reisen an den Schulen. «Neuerdings müssen Eltern sehr früh über die Reiseziele informiert werden», sagt Urs Leisinger, Präsident des Verbands der Gymnasiallehrer des Kantons Zug. «Damit umdisponiert werden kann, falls sie mit dem Reiseziel nicht einverstanden sind.» Die Konferenz der Schweizer Gymnasialrektoren verzichtet bisher auf spezielle Reiseempfehlungen, sagt Präsident Marc König. «Ein Verzicht auf Reisen ins Ausland wäre eine Kapitulation vor dem, was gegen unsere Werte und unsere Ideen von Bildung steht.»
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