Das Böse im Weib
Lydia Benecke therapiert Gewalt- und Sexualstraftäter – und kam so der kriminellen Energie von Müttern und Frauen auf die Spur.

Lydia Benecke gibt Interviews am liebsten während des Autofahrens. Sie hat eine Freisprechanlage, natürlich, und weil sie dreimal pro Woche täglich über 200 Kilometer zurücklegen muss, will die Zeit effizient genutzt sein. Lydia Benecke mag Effizienz. Zwischendurch muss sie das Gespräch schon mal unterbrechen, um zu tanken oder eine Pizza zu bestellen; dann ruft sie fröhlich «Tschühüss und bis gleich», um nur kurz darauf genauso fröhlich zurückzurufen und den Faden nahtlos wieder aufzunehmen. Sie spricht rasend schnell und gleichzeitig druckreif.
Lydia Benecke, schrieb der «Spiegel» unlängst, sei der «Shootingstar» der deutschen Psychologen-Gilde. Das hat nicht nur mit ihrer erfrischenden Art und ihren roten Haaren zu tun, sondern viel mit ihrem Geschlecht, ihrem Alter und ihrem Tätigkeitsgebiet: Sie ist 35 und arbeitet als Therapeutin mit schweren Gewalt- und Sexualstraftätern, die langjährige Haftstrafen im Gefängnis absitzen. Das macht sie zum gern gesehenen Talkshow-Gast; wenn sie Vorträge über ihre Arbeit hält, sind die Säle ausverkauft. Und sie schreibt Bücher. Drei sind es bis jetzt, und immer geht es darin um menschliche Abgründe; das neuste heisst «Psychopathinnen» und ist 430 Seiten dick.
Mütterliche Übergriffe in der Kindheit
Geschildert werden Fallbeispiele wie jenes der heute 47-jährigen Amerikanerin Susan Smith, die vor 24 Jahren ihre beiden Kinder tötete. Das liest sich trotz des Verzichts auf jegliche Effekthascherei so unheimlich wie ein skandinavischer Krimi; dazwischen wird leicht lesbar erklärt, was Psychopathie genau ist und wie sie sich etwa von der Borderline- oder der Antisozialen Persönlichkeitsstörung unterscheidet.
Im Untertitel steht: «Die Psychologie des weiblichen Bösen», und das kommt nicht von ungefähr. Das Böse gilt als männlich, bis heute. Frauen sorgen nur selten für Schlagzeilen wegen schwerer Gewalttaten oder gar Serientötungen. Die Gefängnisse sind fast überall auf der Welt zu über 90 Prozent männlich besetzt.
Missbraucht von der Babysitterin
Auch Lydia Benecke arbeitet ausschliesslich mit Männern. Aber irgendwann fiel ihr auf, dass sich die Geschichten einiger ihrer verurteilten Klienten ähnelten. Es waren Geschichten von sexuellem Missbrauch in der Kindheit. Bloss waren die Täter nicht männlich, sondern weiblich, begangen hatten die Übergriffe Mütter, Nachbarinnen, Cousinen, Schwestern, Babysitterinnen.
Von gewissen Vergewaltigern weiss man, dass ihr Frauenhass oft aus einem konfliktträchtigen Verhältnis mit der Mutter resultiert. Dass auch andere Tätergruppen Opfer mütterlicher Übergriffe geworden sind – emotionaler, körperlicher oder sexueller Natur – war hingegen nicht bekannt. Das liegt daran, dass die Insassen vor ihrer Therapie im Gefängnis kaum je mit jemandem darüber gesprochen haben. Oder dass sie sich das, was ihnen als Bub widerfahren ist, erstmals während der Behandlung eingestehen. Es passt nicht zum männlichen Selbstverständnis, Opfer zu sein, erst recht nicht Opfer einer Frau oder der eigenen Mutter, geschweige denn in sexueller Hinsicht.
Psychopathinnen geben sich hilflos oder hilfsbereit
Es gibt kaum Material darüber, verlässliche Statistiken sind noch nicht möglich. Lydia Benecke sagt: «Bei Sexualdelikten wissen wir nur eines: dass ganz viele davon nie angezeigt werden, die Dunkelziffer ist hoch. Und für Männer ist das Thema noch schambehafteter als für Frauen. Deshalb weiss man so wenig über die Täterinnen.»
Sie begann trotzdem, sich mit diesen zu beschäftigen. Dabei beschränkte sie sich auf eine ganz bestimmte Form kriminellen Verhaltens, jenes, das in Filmen und Büchern so beliebt ist: die Psychopathie. Deren bekanntester Vertreter: Hannibal Lecter aus «Das Schweigen der Lämmer». Und deren bekannteste Vertreterin: Catherine Tramell aus «Basic Instinct».
Geschätzt wird, dass rund ein Prozent der Bevölkerung deutlich psychopathische Persönlichkeitszüge aufweist. Das heisst aber keineswegs, hält Lydia Benecke fest, dass die Betroffenen automatisch alle straffällig würden. Nur der Umkehrschluss stimmt: In Gefängnissen finden sich überdurchschnittlich viele Psychopathen und Psychopathinnen.

Männer sind häufiger davon betroffen – aber nicht ausschliesslich, wie man lange dachte. Mit der weiblichen Psychopathie beschäftigt sich die Forschung erst seit Anfang der 2000er-Jahre intensiver. Schuld daran sind die bis in die Wissenschaft hineinreichenden Geschlechterklischees: Die in den 80er-Jahren entwickelte Psychopathie-Checkliste erkannte Frauen nur selten. «Sie sind», sagt Benecke, «in der Regel sozial kompetenter. Sie wissen, welches Verhalten gesellschaftlich akzeptiert ist und verhalten sich entsprechend.»
Das heisst: Während psychopathische Männer durch Gewalt auffallen und häufig deutlich erkennbar sind an ihrem dominanten, aggressiven und narzisstischen Verhalten, lernen psychopathische Frauen sehr früh, dass man ihnen dasselbe Gebaren übel nehmen würde. Also nutzen sie die herrschenden Rollenbilder zu ihren Gunsten. Sie geben sich oft hilflos und hilfsbereit, arbeiten nicht selten in sozialen Berufen und geben damit jenes weibliche Bild ab, das gesellschaftlich akzeptiert ist: brav und lieb.
Hinter der perfekt angepassten Fassade verstehen sich Psychopathinnen indes hervorragend auf das Manipulieren, sie lügen sich durchs Leben, haben auch dann eine Erklärung parat, wenn sie ertappt werden. Und im Unterschied zu Männern suchen sie sich ihre Opfer häufiger innerhalb des Beziehungsnetzes aus.
Frauen traut man nichts Schlechtes zu
Aber genau wie Männer sind Psychopathinnen nur beschränkt fähig, Empathie oder Schuldgefühle zu empfinden. Frauen traut man diese Gefühlskälte indes nicht zu, sie passt nicht zu dem, was bis heute als «weiblich» gilt. Was dazu führt, dass ihre Taten oft nicht erkannt oder angezeigt werden. Frauen werden also nicht nur grundsätzlich unterschätzt, sondern auch, was ihre kriminelle Energie anbelangt.
Lydia Benecke wundert sich zum Beispiel, dass Bernhard Schlinks Welterfolg «Der Vorleser» – verfilmt mit Kate Winslet in der Rolle der ehemaligen KZ-Aufseherin, die eine Beziehung mit einem Teenager eingeht – nicht als das erkannt werde, was es sei: eine klassische Missbrauchsgeschichte. «Missbrauch liegt immer dann vor, wenn sich zwei nicht auf Augenhöhe begegnen. Wenn eine Person erwachsen ist und die andere nicht, dann besteht da ein Machtgefälle, ein Ungleichgewicht.» Ob es sich bei der älteren Person um einen Mann oder um eine Frau handle, spiele für die Definition keine Rolle, auch wenn das gesellschaftlich anders wahrgenommen werde und Frauen in derselben Konstellation nicht als Täterinnen gelten, sondern als harmlose «Verführerinnen».
Es ärgert sie, wenn nicht genau hingeschaut wird. Sachlichkeit und Genauigkeit sind ihr wichtig, auch sprachlich. Weshalb sie etwa nie von Kinderpornografie spricht, sondern stets von Kindesmissbrauchsdarstellungen: «Pornografie ist eine Sache zwischen Erwachsenen. Wenn Kinder involviert sind, ist das Missbrauch, immer.»
Monströses Verhalten gehört zur Menschheit
Man wird aber nicht zum Täter, bloss weil man in der Kindheit sexuelle Gewalt erlebt hat, so einfach sei es nicht. Überhaupt sagt Lydia Benecke: «Ich habe ein komplizierteres Verständnis von gut und böse als die meisten Menschen.» Dass sie sich ausgerechnet als Frau mit jenen beschäftigt, die anderen Frauen und Kindern Furchtbares antun, findet sie nicht bemerkenswert. Mittlerweile arbeiteten in Deutschland mehr weibliche als männliche Therapeuten, die Insassen in den Gefängnissen hätten sich längst daran gewöhnt.
Mit Vergewaltigern sei es am Anfang mitunter tatsächlich etwas merkwürdig, «die drucksen dann ein wenig rum», lernten aber rasch, im Gegenüber die Fachperson zu sehen und nicht die Frau.
Die Taten ihrer Klienten verfolgen sie nachts nicht, sie ist gut im Abstrahieren. Die Arbeit in einem Spital oder Altersheim fiele ihr schwerer: «Dieses andauernde Leid, traurige Angehörige, Sterbende, das wäre zu viel für mich.» Dass sie ein klares Ziel vor Augen hat, nämlich, die Täter zu lehren, mit ihren Neigungen verantwortungsvoll umzugehen – «heilen können wir sie nicht» –, hilft ebenfalls.
«Die Faszination fürs Böse ist evolutionär bedingt.»
Ihr Beruf ist ihr Hobby. Sie kennt keine freien Wochenenden, «ich gucke keine Serien», sie arbeitet. Es kommt ihr entgegen, dass sich die Öffentlichkeit sehr viel mehr für Täter und deren Verbrechen interessiert als für Opfer und deren lebenslange Versehrtheit. Verwunderlich sei das aber nicht: «Die Faszination fürs Böse ist evolutionär bedingt. Es machte Sinn, die Aufmerksamkeit schnell und automatisch auf Gefahrenquellen zu richten. Deshalb gibt es bei Unfällen Gaffer.»
Die grosse Neugierde erklärt sie aber auch mit dem verbreiteten Wunsch, einen Täter rechtzeitig erkennen und sich damit vor ihm schützen zu können. Was illusorisch sei: «Die Täter verhalten sich im Alltag wie alle anderen. Sie sind eben gerade keine Monster, sie gehören nicht einer anderen Spezies an. Von daher ist es genau betrachtet nicht richtig, ihre Taten, auch wenn sie furchtbar sind, unmenschlich zu nennen.»
Die durchaus verständliche Dämonisierung, sagt Lydia Benecke, lasse ausser Acht, dass solches Verhalten von jeher und in allen Kulturen zur Menschheit gehöre.
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