Interview mit umstrittener Journalistin«Sorgt dafür, dass jeder in eurem Medienhaus Twitter verlässt»
Redaktorin Bari Weiss über ihre Kündigung bei der «New York Times», fehlende Objektivität im Journalismus und die Frage, ob es auch ohne Twitter geht.

Im vergangenen Sommer gab es um Bari Weiss ziemlichen Trubel. Die Journalistin arbeitete im Meinungsressort der «New York Times» (NYT), wo ein Gastbeitrag zur «Black Lives Matter»-Bewegung für Empörung gesorgt hatte. Weiss machte in einem offenen Brief an Herausgeber A. G. Sulzberger einen «internen Bürgerkrieg» zwischen jungen Aktivisten und älteren Liberalen dafür verantwortlich – und kündigte öffentlichkeitswirksam. Seither hat sich die 36-Jährige immer wieder zum Thema Debattenkultur geäussert, unter anderem in ihrer neuen Kolumne bei der «Welt».
Frau Weiss, was haben Sie erlebt, seit Sie die «New York Times» verlassen haben?
Einiges. Ich bin nach Los Angeles umgezogen, wo es gerade herrliche 20 Grad hat, und habe mich mit meiner Lebensgefährtin verlobt, die ich bei der «New York Times» kennengelernt habe. Allein dafür werde ich der Zeitung immer dankbar sein.
Haben Sie noch Kontakt mit dem Herausgeber oder Chefredaktor?
Nein, aber ich habe mit meinem früheren Chef im Meinungsressort, James Bennet, gesprochen und letztens mit Donald McNeil gemailt, der ebenfalls auf einer immer länger werdenden Liste von Leuten steht, die nicht mehr bei der Zeitung arbeiten.
McNeil war bis vor Kurzem Wissenschaftsjournalist der «Times», gilt als Corona-Experte und musste nach internem Druck seinen Job aufgeben – er hatte auf einer Studienreise 2019 politisch nicht korrekte Ausdrücke verwendet. Sein Abgang hat weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Was ist los bei der berühmtesten Zeitung der Welt?
Was da passiert, geschieht im Grunde in allen Institutionen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs für das liberale Amerika stehen. Die Geschichte der «New York Times» ist auch die Geschichte von Verlagshäusern, Universitäten, Hollywood und zunehmend von Technologieunternehmen: Überall dort wird der Liberalismus der alten Schule durch eine neue Ideologie ersetzt, bei der es eine Fixierung auf – ich hasse das Wort, aber ich habe kein besseres – Identitätspolitik gibt. Das führt dazu, dass bestimmte Meinungen erwünscht sind und andere als problematisch abgestempelt werden. Oder dass sich die Prioritäten verlagern. So erschien unlängst auf der wichtigsten Seite im Wirtschaftsteil ein langer Artikel darüber, ob Tiki-Bars kulturelle Aneignung sind. Ist das wirklich wichtig mitten in einer Pandemie, in der eine von fünf Firmen in Amerika den Bach hinuntergeht?
Wie hat sich Ihr Leben durch die Aufmerksamkeit verändert, die Sie nach Ihrem offenen Brief an den Herausgeber erfahren haben?
Was Leute an eine Institution wie die «New York Times» bindet, ist, abgesehen von den unglaublichen journalistischen Möglichkeiten, das Prestige, das damit verbunden ist. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich das nicht vermisse. Jetzt schreibe ich einen Newsletter und die Leute fragen mich: Was ist ein Newsletter? Andererseits fühle ich mich freier, ich kann nach meinen Werten leben und mir etwas Neues aufbauen.
«Immer mehr Journalisten empfinden es nicht als ihre Aufgabe, objektiv zu sein, sondern auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.»
Sie haben für das «Wall Street Journal» gearbeitet. Warum sind Sie 2017 zur «New York Times» gegangen?
Ich wechselte nach der schockierenden Wahl Donald Trumps, zu einer Zeit, als die «New York Times» durch einen tiefen Reflexionsprozess ging. Die Zeitung will ein Spiegel der Gesellschaft sein, hat den Lesern aber die längste Zeit mitgeteilt, dass Hillary Clinton mit 99-prozentiger Sicherheit die Wahl gewinnen werde. Man fragte sich, was schiefgelaufen war, und als Resultat wurden Leute wie mein Kollege Bret Stephens und ich geholt, die für eine Art intellektuelle Diversität sorgen sollten. Wir haben Menschen Gastbeiträge schreiben lassen, die man sonst nicht in der «New York Times» erwartet.
Einer dieser Beiträge war vom republikanischen Senator Tom Cotton, der forderte, das Militär gegen Demonstranten der «Black Lives Matter»-Bewegung aufmarschieren zu lassen. Können Sie nachvollziehen, dass solche Ansichten nach dem Tod von George Floyd Öl ins Feuer giessen?
Historiker werden entscheiden müssen, was exakt passiert ist. Aber in diesem Sommer der «Black Lives Matter»-Bewegung setzte sich meiner Meinung nach eine bestimmte Entwicklung durch: Dass es immer mehr Journalisten nicht als ihre Aufgabe empfinden, objektiv zu sein, sondern auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Diese oft jüngeren und aktivistisch eingestellten Journalisten treffen auf die eher älteren Reporter und Redaktoren mit einem klassischen Verständnis von Journalismus, zu denen ich mich auch zähle. Das hat zu den Konflikten innerhalb der «New York Times» geführt, die ich in meinem Brief an den Verleger geschildert habe.
Sie schrieben darin, dass Sie wegen Ihrer Ansichten von Kollegen gemobbt und als Nazi bezeichnet wurden. Liegt ein Grund, warum Konflikte so schnell eskalieren, vielleicht auch darin, dass die Leute seit der Pandemie zu Hause arbeiten und nur in Online-Netzwerken wie Slack kommunizieren?
Auf jeden Fall. Die Leute treffen sich nicht mehr in der Cafeteria oder merken in der persönlichen Begegnung, dass die Person, die online als schlimm rüberkommt, in Wirklichkeit sehr nett ist. Aber das Konfliktpotenzial war schon vorher da, und es hat mit der Veränderung von Institutionen zu tun: Ein Haus wie die «New York Times» ist nicht mehr der Ort, dem man sich ein Leben lang verpflichtet fühlt und mit dem man sich identifiziert. Heute haben die Leute eher das Gefühl: Die Institution ist da, um mir zu dienen und meinen Ansichten eine Plattform zu bieten. Dazu kommt eine tiefgehende ökonomische und strukturelle Veränderung.
«Es ist kurios, dass unter Linksliberalen inzwischen Leute als Abweichler gebrandmarkt werden. Und es ist alarmierend.»
Inwiefern?
Seit die Anzeigen wegbrechen, sind es nicht mehr die Werbekunden, die ein Medium gewinnen muss. Der wirtschaftliche Erfolg beruht auf digitalen Abonnenten, die oft sehr engagiert sind. Das führt dazu, dass ein Medium seinen Lesern das gibt, was sie bei der Stange hält. Und das ist meistens Aufregung, man sehe sich nur an, was Sender wie MSNBC oder Fox News jeden Abend veranstalten. Viele Leute denken, dass eine Institution wie die «New York Times» immun gegen diese Entwicklung ist. Aber das ist sie nicht. Und wenn man davon ausgeht, dass 95 Prozent der Abonnenten linksliberal eingestellt sind, dann ist es kein Wunder, dass ein Artikel, der Trump verteufelt, besser ankommt als einer über die Dissidenten in Hongkong. Oder nehmen Sie den Fall McNeil: Da wurde ein Starreporter mit Kids aus einem Elitecollege auf eine Studienreise geschickt. Auch das hat mit der Veränderung des Businessmodells zu tun. Die «New York Times» ist nicht mehr nur eine Zeitung, sie besteht aus vielen Businesszweigen. Da gehört eine Koch-App dazu, eine Dokumentation über Britney Spears oder eben Studienreisen.
Inwiefern sind die Konflikte dort repräsentativ für das liberale Amerika?
Die «New York Times» ist ein Spiegel der Gesellschaft, aber auch ihre Vorhut. Meine Grossmutter, die über 80 ist, nimmt die Dinge, die politisch gerade angesagt sind, aus der «New York Times». Die Zeitung spielt eine wichtige Rolle, bestimmte politische Interessen zu pushen. Und sie repräsentiert eine institutionelle Elite der Gesellschaft. Deren Obsessionen und Interessen werden von der Times sowohl abgebildet als auch geprägt.
In einer Kolumne haben Sie vor Kurzem über die «illiberale Kultur» der Linken geschrieben. Was meinen Sie damit?
Den Hang, sich selbst zum Schweigen zu bringen. Meine Welt ist das blaue Amerika, das der Demokraten. Und in dieser Welt fürchten die Leute nicht den Illiberalismus der Rechten, sondern haben Angst, von ihren Nachbarn und Freunden aus Schulen, Unis, Jobs gejagt zu werden, weil sie nicht mit der neuen linken Ideologie konform gehen. Es ist kurios, dass unter Linksliberalen inzwischen Leute als Abweichler gebrandmarkt werden, aber es ist so. Und das ist alarmierend.
Innerhalb der Linken gab es doch immer schon Gruppen, die sich bis aufs Blut bekämpft haben, siehe die 68er-Bewegung in Deutschland.
Aber hier geht es nicht um irgendwelche Rebellen. Die linken Ideologen sind heute innerhalb der Institutionen, an den Unis, in den Medien, es geht hier um Machtpositionen.
Inzwischen schreiben Sie für die konservative «Welt». Wie kam es dazu?
Ulf Poschardt (der Chefredaktor der «Welt»; Anm. d. Red.) hat meinen offenen Brief abgedruckt, und ich habe unglaublich viele Reaktionen darauf bekommen. Ich wollte erst mal pausieren, aber er ist dann drangeblieben und hat mich gefragt, ob ich nicht auch eine Kolumne schreiben will.
«Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich meinem 18-jährigen Ich sagen: Geh ans Rabbinerseminar.»
Was können europäische Medienhäuser aus den Vorgängen bei der «New York Times» lernen?
Institutionen sind so gut oder schlecht wie die Leute, aus denen sie bestehen. Das sah man am Weissen Haus, wie schnell etwas zerstört werden kann, wenn es in den Händen der falschen Menschen ist. Ich würde daher sagen: Macht nicht jede Aufregung mit, steht hinter euren Angestellten. Der coolste und schlaueste Move – das habe ich A. G. Sulzberger auch immer gesagt – wäre: Sorgt dafür, dass jeder in eurem Medienhaus Twitter verlässt. Ich glaube, dass eine Redaktion, die einen oder zwei Monate ohne Twitter auskommt, unglaubliche Resultate erzielen wird, nicht zuletzt durch die gestiegene Produktivität ihrer Angestellten.
Wäre es für Journalisten nicht fahrlässig, eine Informationsquelle wie Twitter zu ignorieren?
Ich sage nicht, dass man Twitter ignorieren soll. Aber es hängt davon ab, was man erreichen will. Wenn man sich selbst als Marke etablieren will, ist Twitter natürlich hervorragend.
Haben Sie mal überlegt, Ihren Job hinzuwerfen?
Natürlich, wie jeder Journalist, oder? Ich habe daran gedacht, ein Hotel zu eröffnen. Oder Rabbinerin zu werden, ich denke und argumentiere einfach gerne. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich meinem 18-jährigen Ich sagen: Geh ans Rabbinerseminar.
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