Spiegel der Wirklichkeit
Playmobil ist Lebenshilfe, sagt der Soziologe Sacha Szabo. Er würdigt die Spielzeugwelt, deren Begründer jetzt gestorben ist.
Horst Brandstätters Playmobilfigur wird weiterleben, auch wenn der Mann, der den Anstoss zu ihrer Erfindung gab und sie seit über 40 Jahren produzierte, nicht mehr für sie sorgen kann. Dafür spricht schon, dass sie sich seit ihrer Erfindung Anfang der Siebzigerjahre ständig gewandelt hat. Das Playmobil, mit dem in den Anfängen gespielt wurde, unterscheidet sich vom heutigen Playmobil grundlegend. Damals konnte man aus einem Bauarbeiter einen König machen, indem man ihm den Bauhelm abnahm und eine Krone aufsetzte. Eine wunderbare Utopie, die den Geist der Siebzigerjahre verkörperte.
Temporär arbeitslos
In den Achtzigerjahren spiegelte sich in den Playmobilfiguren das, was die westliche Welt seit den Sechzigerjahren durchlebte: die zunehmende Individualisierung. Die Figuren bekamen plötzlich unterschiedliche Gesichter und verschiedene Körper. Die zunehmende Individualisierung hatte natürlich einerseits den Vorteil, dass nun statt einer Figur gleich mehrere gekauft werden mussten, wenn man eine Szene darstellen wollte. Dies hatte aber für die Figuren den Nachteil, dass ihnen das gleiche Schicksal wie den Menschen drohte. Die hochgradige Spezialisierung birgt nämlich immer das Risiko temporärer Arbeitslosigkeit. Für die Figur hiess dies, dass sie ungebraucht in der Ecke liegen blieb. Die gesellschaftliche Modernisierung wirkte tief in die Playmobilwelt hinein. Waren anfangs die Frauenfiguren entweder helfende Krankenschwestern, kochende Squaws oder repräsentierende Königinnen, so drangen sie langsam in Männerberufe vor und konnten etwa Polizistin werden.
Playmobilfrauen mit Kinderwagen
Allerdings gibt es eine Häufung von Playmobilfrauen mit Kinderwagen, die vermutlich der kindlichen Wirklichkeit geschuldet ist, in der der Kinderwagen nun mal eine prominente Rolle einnimmt. Wobei die Playmobilfiguren auch sehr vermehrungsfreudig sind. Pro Minute erblicken 3,2 Figuren das Licht der Welt und stellen damit das menschliche Bevölkerungswachstum mit 2,6 Geburten in den Schatten.
Doch es sind nicht nur die traditionellen Lebensverhältnisse und Rollenmuster, die sich in der Moderne auflösen, sondern auch Geschlechtsidentitäten verändern und erweitern sich. Ob absichtlich oder unabsichtlich, das ist nicht ganz klar, aber in der Tat spiegelt auch die Playmobilwelt diese Veränderungen wider. Es gibt «Playmobil Figures»-Sets, mit denen die Figur selbst zusammengebaut werden kann. Es gibt Packungen für Mädchen in Rosa und Sets für Buben in Blau.
Artefakt als Seismograf
So können Buben etwa einen Hybrid aus Skateboardfahrer und Koch erschaffen, und die Sets für Mädchen lassen solch faszinierende Kombinationen wie eine Blut trinkende Geisha zu. Das aber wirklich Spannende ist, dass sich beide Rollenangebote mischen lassen. Es gibt damit Transgender-Playmobils.
Eine bärtige Sängerin wäre dabei noch eine recht einfach zu erschaffende Kombination, wenngleich eine hochaktuelle.
Diese Anpassungen an die gesellschaftlichen Realitäten zeigen, dass das Artefakt Playmobil ein Seismograf ist, an dem sich die Veränderungen der letzten 40 Jahre ablesen lassen. Und scheint auch manches Potenzial zufällig und ungewollt, so gibt es dennoch eine greifbare Ursache für den Erfolg dieses Spielzeugs. Mit diesen Figuren kann unsere kontingente und hochkomplexe Wirklichkeit nachgestellt werden. Geschehnisse, die schockartig in unsere Wahrnehmung einbrechen, werden in eine symbolische Ordnung überführt und in einer Art Figurentheater erzählt. Dieser Vorgang, aus einer manchmal als verstörend empfundenen Umwelt eine Geschichte zu formen, das ist Kulturproduktion in Reinform.
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