Bei GC abserviert, in Italien gefeiert
Remo Freuler verzückt mit Atalanta Bergamo die Tifosi in der Serie A. Doch der Zürcher hat einen beschwerlichen Weg hinter sich.
Das Spiel ist ein ausgelassenes Fest, das an diesem Sonntag im Norden Bergamos stattfindet. Im alten Atleti Azzurri d’Italia führt Atalanta gegen Pescara 2:0, und als die 93. Minute anbricht, rundet die Mannschaft ihren perfekten Nachmittag mit einer Zugabe ab. Das 3:0 fällt, es wird noch lauter im Stadion mit 17'844 Zuschauern, und Remo Freuler lässt sich von der Stimmung anstecken: «Diese Unterstützung ist wahnsinnig.»
Atalanta hat mit 55 Punkten bereits einen neuen Rekord in seiner Geschichte aufgestellt, belegt in Italiens Serie A Rang 6, ist gleichauf mit dem fünftplatzierten Inter, drängt Richtung Europa League – und Freuler gehört zu jenen Spielern, die diese Mannschaft prägen.
«Er sorgt für Sicherheit und Stabilität im Team», lobt Trainer Gian Piero Gasperini. Und für Pietro Serina, den Journalisten vom «Eco di Bergamo», ist der 24-jährige Schweizer ein Beispiel für Zuverlässigkeit: «Wenn einer den Ball verliert, weiss er: Remo ist da. Remo mag kein Künstler sein, aber er entwickelt sich dank seiner taktischen Intelligenz und seinem Fleiss zu einem unverzichtbaren Wert bei Atalanta. Er kommt mir vor wie eine Bankgarantie.»
Lars Ricken, das Vorbild
Tatsächlich ist Freuler der erstaunliche Aufsteiger in Bergamo in dieser Saison, in 25 von 29 Partien ist er zum Einsatz gekommen und hat drei Tore erzielt. «Schön», sagt er, «schön, dass es so gut läuft.» Das klingt eher routiniert als überrascht, das merkt er selber, und darum schiebt er nach: «Meine Geschichte ist schon ziemlich speziell.» Es ist eine Geschichte, zu der Träume und Umwege gehören, Rückschritte und Zweifel.
In Wetzikon kam Freuler zur Welt, in Hinwil wuchs er auf und fing dort auch an zu kicken. Er eiferte Lars Ricken nach, seinem Idol von Borussia Dortmund, und er änderte bald seine beruflichen Wünsche: Aus ihm sollte nicht mehr ein Polizist werden, sondern ein Fussballprofi, am liebsten natürlich ein möglichst berühmter. Freuler besuchte in Uster die Kunst- und Sportschule, wechselte als Junior zu Winterthur. Er fuhr mit dem Zug aus dem Zürcher Oberland ins Training, fing mit der KV-Ausbildung an und stieg sportlich kontinuierlich auf – bis er in der 1. Mannschaft debütierte und sich für GC interessant machte.
Er hielt das Tempo hoch: Transfer, Lehrabschluss, Debüt in der Super League. Zweifel? Wieso auch?
Fall und Aufstieg
Nur kam eben auch diese Phase, in der die Leichtigkeit verflog und Freuler an Grenzen stiess. Er war noch keine 20, als er bei GC zu hören bekam, welche Perspektiven er im Club habe: keine. Im Januar 2012 war das, und Freuler stellte sich eine Frage, an die er zuvor kaum gedacht hatte: Wird das noch etwas mit einer Karriere im Fussball? Die Antwort fand er auch mithilfe von Amir Abrashi, einem seiner besten Freunde. Natürlich war Aufgeben keine Option, natürlich wollte er einen neuen Anlauf nehmen.
Also erkundigte er sich persönlich bei Boro Kuzmanovic, ob er für ihn beim FC Winterthur allenfalls einen Platz frei hätte. Der Trainer, der Freuler aus Juniorenzeiten kannte, sagte: «Du bist willkommen. Aber ich gebe dir keine Garantie, dass du ständig spielst.»
Freuler kehrte zurück auf die Schützenwiese, setzte sich in der Challenge League durch und wandte dafür ein simples Rezept an, jedenfalls formuliert es Kuzmanovic so: «Remo spielt einfach gern Fussball.»
Da war es auf einmal wieder, dieses forsche Tempo von früher, zurück war die Unbeschwertheit, die er auch nicht verlor, als er 2014 in Luzern von Sportchef Alex Frei einen Vertrag erhielt. Freuler spielte, ob der Trainer nun Carlos Bernegger hiess oder Markus Babbel – und nach zwei Jahren setzte er zum nächsten Karrieresprung an. Im Dezember 2015 brach er die Ferien in Thailand ab, weil Atalanta Bergamo rief. Freuler fuhr mit seinem Vater Marcel in die Lombardei, traf die Verantwortlichen, sah das erstklassige Trainingsgelände, und noch bevor die beiden auf dem Heimweg die Schweizer Grenze erreicht hatten, herrschte Klarheit. Den offerierten Vertrag über viereinhalb Jahre würde Remo unterschreiben. Und der FC Luzern machte ein einträgliches Geschäft: 1,5 Millionen Euro wurden aus Italien überwiesen.
Nun sitzt Freuler mitten in Bergamo an der Sonne, unweit von seiner 3,5-Zimmer-Wohnung im Stadtzentrum, und meldet bei vorsommerlichen Temperaturen: «Mir hätte nichts Besseres passieren können.»
Tifosi feiern – und verzeihen
Sechs Monate dauerte die Zeit der Eingewöhnung, des Kennenlernens einer neuer Umgebung und einer neuen Liga. Und Freuler spürte auch: Auf ihn, den Schweizer, hatte keiner gewartet. Also musste er Überzeugungsarbeit leisten und in der Lage sein, in Italienisch zu kommunizieren. Er besuchte dreimal in der Woche einen Sprachkurs, gewöhnte sich an den höheren Rhythmus, und mit der Trainerrochade von Edy Reja zu Gian Piero Gasperini änderte sich auch seine Rolle im Team. Freuler gehörte fortan zum Stamm. Und begeisterte Atalantas Präsidenten. Nach dem 1:0 im Herbst gegen das grosse Napoli schwärmte Antonio Percassi vom Schweizer: «Einen Jungen möchte ich hervorheben: Remo Freuler. Aussergewöhnlich! Ein Symbol dieser Mannschaft, die so gut organisiert ist.»
Freuler, der Mann mit der Rückennummer 11, ist längst nicht mehr der Kleine, der Unbekannte, der Mitläufer. Er läuft bis zu 12,5 Kilometer pro Match und ist in eine dominante Rolle gewachsen. Das, was er mit seinen Kollegen in dieser Saison bislang abgeliefert hat, kommt beim Publikum vorzüglich an.
Als die Mannschaft im Februar nach dem 2:0 bei Napoli heimkehrte, warteten Hunderte Tifosi am Flughafen, um ihre Helden zu empfangen. Die gleichen Anhänger verziehen auch den heftigen Ausrutscher vor zehn Tagen in Mailand. Nach dem 1:7 munterten sie die Spieler noch am selben Abend nach der Ankunft im Trainingszentrum auf. Eine Woche später feierten sie alle gemeinsam den 17. Erfolg der Saison, dieses mühelose 3:0 gegen Pescara. Mit einem Freuler, der viel lief, viel redete, viel organisierte, der also genau das machte, was der Trainer von ihm verlangt.
Die rosige Prognose des Experten
Am Abend fuhr er zurück in die Heimat, seit gestern bereitet er sich mit der Schweiz auf das WM-Qualifikationsspiel gegen Lettland in Genf vor. Der frühere Nachwuchs-Nationalspieler hat die Hoffnung, am Samstag seine ersten Minuten in einem Länderspiel zu bekommen, «und wenn nicht», sagt er, «nehme ich das als Ansporn, noch mehr zu investieren, um noch besser zu werden».
Atalanta Bergamo, Nationalmannschaft – und danach? Wohin führt die Reise? «Weiter nach oben», glaubt Kuzmanovic, «er hat die richtige Mentalität dafür, kennt keine Scheu vor grossen Namen, und zeigt, wie hungrig er ist.» In Bergamo befürchtet Journalist Serina, dass der Schweizer gewiss nicht bis 2020 bleibt, wenn er so weitermacht: «Atalanta hat schon manchem Spieler als ideales Sprungbrett gedient. Es wäre nicht verwunderlich, wenn Freuler für fünf, sechs oder noch mehr Millionen verkauft werden könnte. Aber ich würde es enorm bedauern, wenn er bald ginge. Für die Leute in Bergamo ist er nicht mehr irgendeiner von vielen, nein, er ist für sie ‹Grande Remo›.» Und was plant Freuler? «Ich bin bei Atalanta Bergamo. Und glücklich.»
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