
Es ist das Elend von Zürichs Bürgerlichen, dass die Stadt seit nunmehr 28 Jahren von einem rot-grün dominierten Stadtrat regiert wird – und sich in diesen Jahren sehr erfreulich entwickelt hat: Aus einem Miefstädtchen wurde eine Trendmetropole. Natürlich ist das nicht allein das Verdienst der rot-grünen Magistraten – aber es ist auch ihr Verdienst. Und es ist insbesondere Ausdruck davon, dass die Stadtratsmehrheit zwar rhetorisch oft und gern die rot-grüne Seele streichelt, dass sie aber in der Regierungspraxis viel Sinn fürs Pragmatische beweist und einem durchaus liberalen Politikverständnis nachlebt.
Wer hat das Sagen?
Doch nun ist dieses Erfolgsrezept in Gefahr. Wenn die Zürcherinnen und Zürcher Ende November an die Urnen schreiten, müssen sie auf dem Stimmzettel zwar die Frage beantworten, was sie von einem Fussballstadion mit ergänzenden Wohnbauten auf dem Hardturm-Areal halten. Im Kern geht es indessen um die Frage, wer in Zürich politisch das Sagen haben soll.
Sollen es weiterhin die rot-grünen Pragmatiker in der Regierung sein? Sie sind die Architekten der Stadionvorlage, welche ein privat erstelltes, via Wohnungsbau querfinanziertes Stadion vorsieht. Oder sollen die «Realos» von einer zunehmend ideologisierten, gewissermassen jungsozialisierten Basis abgelöst werden? Sowohl die städtische SP wie die städtischen Grünen lehnen das Projekt ihrer Magistraten ab. Die SP hat stattdessen eine Initiative für ein öffentlich finanziertes Stadion lanciert.
Die städtische Stadionabstimmung ist der prominenteste innerlinke Boxring. Aber nicht der einzige: dass die rot-grünen Gemeinderäte – gegen den Willen ihrer Magistraten – den historischen Parkplatzkompromiss ins Visier nehmen. Dass die grüne Basis der Kantonalpartei – auf Betreiben der städtischen Vertreter und gegen den Willen der Partei-Granden – SP-Regierungsrat Mario Fehr die Unterstützung verweigert. Das alles sind Symptome derselben Entwicklung.
Der anschwellende links-urban-oppositionelle Drive ist die Auswirkung der neuen Machtverhältnisse. Seit dem 4. März stellt Rot-Grün nicht nur in der städtischen Exekutive die Mehrheit. Neuerdings hat sie auch im Gemeinderat eine komfortable Mehrheit – so komfortabel wie nie in der jüngeren Geschichte. Ironischerweise ist die Arbeit des rot-grünen Stadtrats dadurch deutlich komplizierter geworden.
Gemässigte Stadträte
So lange Rot-Grün im Gemeinderat für eine Mehrheit Support aus der politischen Mitte brauchte, gehörte Kompromissbereitschaft zum Grundwortschatz von SP und Grünen. Das passte gut zum gemässigten Wesen ihrer Stadträte. Doch mit dem Zwang zum Kompromiss ist es nun vorbei. Bezeichnenderweise dauerte es nach dem 4. März nur wenige Wochen, bis die SP der Hardturm-Vorlage, die sie zuvor noch mitgetragen hatte, die Unterstützung entzog.
Gewiss: Dass die links-grünen Parlamentarier die Mehrheit nutzen wollen, um ihr Programm (oder vornehmer: den Wählerauftrag) möglichst unverwässert umzusetzen, liegt im Wesen der Politik – das machen die Bürgerlichen im Kantonsrat, wo die Macht auf ihrer Seite liegt, nicht anders. Nur ändert das nichts daran, dass selten optimale Ergebnisse entstehen, wenn eine ideologisch motivierte Parlamentsmehrheit durchzumarschieren versucht – das gilt für die Stadt genauso wie für den Kanton Zürich.
Die Abstimmung über die Stadionvorlage stellt eine politische Weiche: Gibt es ein Ja, ist es den rot-grünen Magistraten offensichtlich gelungen, auch einen Teil der SP-Wähler für den pragmatischen Weg zu gewinnen. Es wäre eine Bestätigung dafür, dass der bewährte Geist der Vergangenheit auch die Zukunft prägen soll. Gibt es dagegen ein Nein, wird das dunkel-rot-grüne Lager die Pragmatiker in der Regierung künftig mit noch grösserem Furor (und gestärkter Legitimation) vor sich her treiben.
Ironie der Geschichte
Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass der Abstimmungskampf just in die Zeit fällt, in der die SP ihr historisches Bewusstsein zelebriert und an den Landesstreik erinnert, der vor exakt 100 Jahren das Land erschütterte. Tatsächlich ist der Blick zurück erhellend – neben dem Blick auf den Landesstreik auch jener auf die10 Jahre danach beginnende Ära des «Roten Zürich». Es ist eine Ära, auf welche die SP zu Recht stolz ist. Gerade in der Wohnungs- und Sozialpolitik hatte die Sozialdemokratie in jenen Jahren, als sie im Stadt- und zeitweise auch im Gemeinderat die Mehrheit besass, viel erreicht.
Es gelang ihr dies mit einer Politik, die so ganz anders war als von der bürgerlichen Konkurrenz (sie warnte auf Flugblättern vor der «roten Parteidiktatur») befürchtet: nämlich pragmatisch und auf Ausgleich bedacht. Bezeichnend dafür: Am 1. Mai 1928 wurden zwar erstmals die städtischen Amtsgebäude beflaggt. Aber nicht mit roten, sondern mit Schweizer und mit Zürich-Fahnen.
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Stadionabstimmung entscheidet, wer in Zürich künftig das Sagen hat
Im prominentesten innerlinken Boxring geht es um viel mehr als ein Fussballstadion.