Stalins Hungerkrieg
Eine bewusst herbeigeführte Hungersnot forderte in den 1930er-Jahren gegen vier Millionen Tote in der Ukraine. Historikerin Anne Applebaum führt das Ausmass dieses Verbrechens vor Augen.

Was war, durfte nicht sein – sechs Jahrzehnte lang. Die Sowjetunion bestritt bis zu ihrem Ende, dass es in den 1930er-Jahren zu einer Hungersnot gekommen war. Doch 1991 passierte, wovor sich Josef Stalin am meisten gefürchtet hatte, wie Historikerin Anne Applebaum in ihrem neuen Buch «Red Famine», das vorerst nur auf Englisch erhältlich ist, schreibt: Die Ukraine wurde ein unabhängiger Staat. Auf einmal wurde über Ereignisse gesprochen, die trotz aller Vertuschungsversuche nie aus dem kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung gelöscht werden konnten. Plötzlich waren die Archive offen, wurden Zeitzeugen befragt, und eine neue Generation ukrainischer Historiker machte sich daran, aufzuarbeiten, was nie hätte aufgearbeitet werden sollen.
Ein Vierteljahrhundert später nutzt Applebaum diese Vorarbeit. Ihr breit abgestütztes Buch macht sie einem Publikum ausserhalb der Ukraine zugänglich. Und sie bettet die damaligen Ereignisse in den grösseren Kontext des sowjetisch-russischen Verhältnisses zur Ukraine ein. In einer Zeit, in der dieses Verhältnis an einem Tiefpunkt angelangt ist, ist Applebaums nüchterner Blick auf die Vergangenheit besonders wichtig.
Menschen wie Skelette
Im Frühjahr 1933 erreichte die Hungersnot, die heute als «Holodomor» (eine Kombination aus den Worten Hunger und Sterben) bekannt ist, ihren Höhepunkt. Ein polnischer Diplomat reiste im Mai mit dem Auto von Charkiw, damals die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik, nach Moskau und machte eine befremdliche Beobachtung: Rund um Charkiw waren die Bauerndörfer in einem furchtbaren Zustand. Vieh war nicht zu sehen, die Häuser waren teilweise eingestürzt. «Kinder und Alte erinnerten mehr an Skelette», schrieb der Diplomat. Was ihn am meisten überraschte, war der Unterschied zu den Dörfern in der russischen Sowjetrepublik. Gleich hinter der Grenze gab es keine Anzeichen von Hunger: «Ich hatte den Eindruck, dass ich die Grenze von der Sowjetunion nach Westeuropa überschreiten würde», heisst es in dem Bericht.
Der polnische Diplomat ist nicht der einzige Zeitzeuge, der solche Unterschiede wahrnahm. Zwar hat es zu Beginn der 1930er-Jahre in weiten Teilen der Sowjetunion Probleme mit der Nahrungsmittelversorgung gegeben. Auch in anderen Sowjetrepubliken starben Menschen an Hunger. Doch das Ausmass in der Ukraine war völlig anders. Die gegen vier Millionen Hungertoten, in einem der fruchtbarsten Gebiete der Sowjetunion, waren nicht die Folge von Missernten. In der Ukraine starben ganze Dorfgemeinschaften, weil Stalin das so wollte: weil die ukrainische Landbevölkerung über mehrere Jahre einen viel zu hohen Anteil ihrer Ernte in andere Teile der Sowjetunion abliefern musste.
«Stalins Krieg gegen die Ukraine» lautet der Untertitel des Buchs. Wie im Krieg mussten sich viele ukrainische Bauern gefühlt haben, als die staatlich organisierten Suchtrupps in den Dörfern auftauchten, um alles Essbare zu beschlagnahmen. Solche Trupps hatten die Dörfler schon nach der Revolution erlebt, als den Bolschewisten fast jedes Mittel recht war, um genügend Getreide nach Moskau und St. Petersburg zu schaffen, damit die dortige Arbeiterschaft weiter zu ihnen hielt. Auch während der wiederholten Versorgungskrisen in den 1920er-Jahren wurden Suchtrupps losgeschickt.
1932/33 erreichten deren Methoden ein neues Mass an Brutalität. Es kam zu Folter, es wurde getötet und vor allem: Es wurde nicht nur Getreide beschlagnahmt, der «rote Besen» (einer der Ausdrücke, den Überlebende später in ihren Erzählungen benutzten) fegte die Dörfer komplett leer.
Stadt gegen Land
In der Realität waren die Trupps gemischt. Doch in der Erinnerung überlebender Bauern waren es «Fremde», «Russen», «Juden», Leute aus der Stadt, die das Unheil über sie gebracht hatten. Viele Studenten, junge Arbeiter, die später in der Sowjetunion Karriere machten, zogen damals durch die Dörfer. In der sowjetischen Propaganda wurde Stadt gegen Land ausgespielt. Der Landbevölkerung, die angeblich Lebensmittel hortete, wurde die Schuld an der prekären Versorgungslage in den Städten in die Schuhe geschoben.
Die Korrespondenz zwischen Funktionären in der ukrainischen Sowjetrepublik und Stalin lässt keinen Zweifel daran, dass man in Moskau wusste, wie die Beschlagnahmungen in den ukrainischen Dörfern abliefen, wie viele Menschen hungerten und starben. Millionen hätten überlebt, wenn Moskau rechtzeitig eingelenkt hätte. Um eine Massenflucht der hungernden Landbevölkerung zu verhindern, wurden sowohl die ukrainischen Städte als auch die Grenze zu den benachbarten Sowjetrepubliken abgeriegelt. Und anders als bei der grossen gesamtsowjetischen Hungersnot nach dem Bürgerkrieg zu Beginn der 1920er-Jahre wurde dieses Mal keine Hilfe aus dem kapitalistischen Ausland angefordert. Im Gegenteil: Die Sowjetunion exportierte weiter Lebensmittel – auch aus der Ukraine – gegen Devisen in den Westen.
Warum die Ukraine? Applebaum kommt zu dem Schluss, dass Stalin nicht einfach alle Ukrainer töten wollte. Das Ziel sei vielmehr die Auslöschung der aktivsten Teile der ukrainischen Gesellschaft gewesen. Während die Landbevölkerung den Hungertod starb – insbesondere in jenen Regionen, die sich zwischen 1918 und 1920 am stärksten gegen die Machtübernahme der Bolschewisten gewehrt und zehn Jahre später am meisten Widerstand gegen die Kollektivierung in der Landwirtschaft geleistet hatten –, wurden in den Städten Tausende Mitglieder der ukrainischen Elite deportiert oder umgebracht. Damit sollte verhindert werden, dass in der Ukraine jemals wieder eine nationale Identität entsteht.
Kurz nach der Oktoberrevolution 1917 hatte sich die Ukraine ein erstes Mal für unabhängig erklärt. Sie blieb es zwar nicht lange, doch es hatte sich gezeigt, dass der Wunsch nach einem unabhängigen Staat tief in der ukrainischen Gesellschaft verankert war. Zur Überraschung der russischen Eliten, die sowohl zur Zeit des Zaren als auch später unter den Sowjets dem kleineren Nachbarn jegliche kulturelle Eigenständigkeit absprachen. Im Grundsatz gilt das bis heute. Und so überrascht es nicht, dass in Putins Russland die Verunglimpfung des Holodomor als Mythos wieder Hochkonjunktur hat.
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